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Ich bin der Herr deiner Angst

Ich bin der Herr deiner Angst

Titel: Ich bin der Herr deiner Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan M. Rother
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sich mit solchen Dingen beschäftigen.» Der alte Mann griff nach seinem Zigarettenpäckchen. «Historiker. Juristen. Dazu kann ich nichts sagen. Ich glaube auch nicht, dass das von Bedeutung ist.»
    Der Hauptkommissar hob die Augenbrauen.
    Ein Aufflammen des Feuerzeugs.
    «Am Ausgangspunkt seiner Überlegungen finden wir Boethius, wie er über sein Schicksal zürnt. Über die Wechselfälle des Glücks.»
    «Nicht ganz zu Unrecht – in seiner Situation», bemerkte Albrecht.
    Die Hand mit der Zigarette wurde gehoben. «Ich sage nicht, dass er nicht einen gewissen Anlass hat, seine Situation zu beklagen. Was ich sage, ist, dass es in der Natur des Glücks liegt, nicht beständig zu sein.
    Das ist im Übrigen auch die Einschätzung der Philosophie, die Boethius in Gestalt einer Frau in seiner Kerkerzelle aufsucht, um ihn – wie der Name der Schrift es sagt – zu trösten.
    Wer von seinem Glück profitiert, solange es ihm gewogen ist, darf sich umgekehrt nicht beklagen, sobald es ihn im Stich lässt.»
    Jörg Albrecht würde jetzt nicht an die Bewohner eines Bauernhauses in Ohlstedt denken.
    «Wobei die Philosophie an dieser Stelle aufzeigt, dass es sich bei vielem, was wir für Glück halten, lediglich um ein scheinbares Glück handelt: Reichtum, Macht, allgemeine Wertschätzung. Je mehr wir von diesen Dingen besitzen, desto mehr wächst unsere Angst, sie zu verlieren – und das macht uns unglücklich. Wenn wir sie dann aber verloren haben, sind wir erst recht unglücklich. Und wir werden sie verlieren …» Lungenzug. «Wenn wir tot sind, sowieso.»
    Jörg Albrecht betrachtete sein Weinglas. Wenn man sich zwischen Boethius und Marc Aurel – und Heiner Schultz – bewegte, konnten die Dinge gewöhnungsbedürftige Formen annehmen.
    «Demnach wäre es am besten, überhaupt nicht glücklich gewesen zu sein?», hakte Albrecht ein.
    «Ja. Nach der Definition der Philosophie, die dem Gefangenen rät, sich von allem freizumachen, was er nicht kontrollieren kann. Von der Jagd nach dem Glück, von Leidenschaften wie Freude, Angst, Hoffnung, Schmerz, die den Blick auf das Wesentliche verstellen.»
    Nämlich?
    Albrecht verbot sich, die Frage zu stellen.
    Auch jetzt, nach all den Jahren, kam er sich zuweilen vor wie der Anführer der Spinnenbande in kurzen Hosen und Sandalen, wenn er dem alten Mann gegenübersaß.
    «Das Wesentliche», murmelte er. «Das Wesentliche sind wir selbst.»
    Lungenzug. Kein Wort.
    «Die Art und Weise, in der wir die Dinge sehen …» Jörg Albrecht sah die gedämpfte Beleuchtung, die sich in seinem Weinglas spiegelte, dahinter, in Rauch gehüllt, die Gestalt des alten Mannes. «Nein», murmelte er. «Die Art und Weise, in der wir
uns selbst
sehen. Wenn wir kein wahres Bild von uns selbst haben, wie können wir dann ein wahres Bild von den Dingen haben, so … So, wie sie in Wahrheit sind?»
    «Sehen Sie?» Die Zigarettenglut glomm auf.
    Jörg Albrecht nickte stumm.
    Er hatte sich dem Weidenast anvertraut, und David Martenberg war gestorben.
    Um ein Haar hätte eine der bedeutendsten Ermittlungen seiner Laufbahn in einem beispiellosen Fiasko geendet, weil ein lächerlicher alter Mann der Täterin sein Vertrauen geschenkt hatte.
    Hannah Friedrichs hatte ihn und die Ermittlung gerettet.
    Das alles war die Wahrheit.
    Seine Schuld war eine Wahrheit,
doch auch tausend andere Dinge mehr
.
    Er hatte sich dem Weidenast anvertraut. Es war seine Entscheidung gewesen. Seine Wahl.
    Ebenso wie David Martenberg eine Wahl getroffen hatte, als er seinem Boss zu Hilfe gekommen war, und Ole Hartung an der Tür des
Fleurs du Mal
.
    Und Maja Werden.
    Seine Schuld war ein Teil des Ganzen, wie sie ein Teil von ihm war.
    Doch sie war nicht alles. Sie war nicht mehr als einer der Gegenstände – einer der Gegenstände im Raum.
    Das Wesentliche, dachte Jörg Albrecht. Die Wahrheit.
    Die Wahrheit ist alles zusammen.
    Jörg Albrecht würde lernen.
    Lernen, mit der Wahrheit zu leben.
    Er betrachtete die Phalanx der Schachfiguren.
    Das Spiel beginnt immer wieder von vorn.
    Schultz drückte seine Zigarette aus, griff übergangslos nach seiner Schnupftabakdose und nahm eine Prise.
    «Spielen wir eine Partie?», fragte der alte Mann. «Wir haben
ein halbes Leben
nicht gespielt.»
    Jörg Albrecht hob eine Augenbraue. «Haben Sie heimlich geübt? – Aber gut.»
    Er lehnte sich in seinem Sessel zurück.
    «Weiß beginnt. Ich vertraue Ihnen.»

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nachspiel
    Davos, Schweiz
    Die Züge eines alten Mannes

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