Die Containerfrau
1
»Das Schönste, was du mir jetzt sagen könntest, ist, dass du den Wind abstellen kannst. Oder mir deine Jacke leihst. Ich finde es überhaupt nicht schön, dass der Fjord weiß ist. Ich frier mir einen Ast ab! «
Kommissarin Anne-kin Halvorsen brüllt gegen den Wind an und zieht sich den Reißverschluss der Uniformjacke bis zum Kinn hoch.
»Waschlappen«, ruft der dick eingepackte Kollege Vang und steigt über die Absperrungen. Kein einziges Wort über die »verspielten Kräfte der Natur in wütendem Angriff auf den Hafen von Trondheim« sind vom Augenblickspoeten Vang zu hören. Er ist jetzt im Dienst. Wie auch Anne-kin. Viel zu dünn angezogen unter der Kutte, betrogen und an der Nase herumgeführt von einem linden Septemberföhn, der früher an diesem Tag geweht hat. Jetzt ist der Föhn verschwunden, ist einwandfrei nicht mehr von dieser Welt. Übrig ist nur der Wind. Er kommt jetzt von Osten und bringt alle kalte Luft aus den Grenzgebirgen, aus Finnland, Russland, Sibirien mit, die er sich überhaupt nur in seinen Sack stecken konnte. Jetzt leert er diesen Sack aus. Und zwar genau hier. In Trondheims Nyhavn. Tobt über der Asphaltwüste und den Lagerhallen, über Kränen, Gabelstaplern, Lastwagen und Containern. Faucht wütend angesichts der deutschen Windbrecher aus Kriegstagen, den U-Bootbunkern Dora I und Dora II, umrundet Ecken aus dickem grauem Beton und veranstaltet auf der Rückseite noch zusätzliche Turbulenzen. Die wenigen Schiffe, die am Kai liegen, reißen wütend an ihren Trossen und reiben mit ihren Fendern an der Hafenmauer. Und die wenigen Menschen, die sich dort aufhalten, scheinen jederzeit abheben zu können. Annekin kriecht in sich zusammen, verflucht Wind und Wetter und ihr warmes Wams, das zu Hause in der Schublade liegt. Sie geht in die Hocke und betrachtet Pflastersteine.
Die Kreidestriche sehen neu aus, denkt sie. Als sei der Mord gerade erst begangen worden. Dabei ist es zwei Tage her. Trotzdem sehen die Kreideumrisse ganz frisch aus. Trockene, präzise Kreidestriche. Es hat seit Tagen nicht geregnet. Die Kreide ist trocken.
Ein fünfundvierzig Jahre alter Mann, ein guter alter Bekannter der Polizei, hatte hier gelegen. Vor zwei Tagen. Erstochen. Das Messer war problemlos in den dünn bekleideten und schlecht ernährten armen Teufel hineingeglitten, bei dem keine Fettschicht den Stoß mindern konnte. Die wichtigsten Organe waren perforiert worden. Hin Securitas-Wächter hatte ihn gefunden. Sie hatten das »Milieu« durchgekämmt, hatten seine Freunde und Feinde aufgesucht. Freunde und Feinde waren zumeist dieselben. Die Freundschaft blühte, solange die Flasche voll war und der Kumpel spendierte. Die Feindschaft setzte in der Regel dann ein, wenn der Spender den letzten Tropfen für sich beanspruchte. Die alte Leier, dachte Anne-kin. Aber früher wurde hier nicht so oft zum Messer gegriffen. Früher stauchten die durstigen Kumpels solche Knauser mit Worten zusammen, ballten die Fäuste und ließen Eiter und Galle über ihre Lippen strömen. Schlimmstenfalls kam es zu einer unbeholfenen kleinen Schlägerei mit unsicheren Fäusten. Bei der sie, die durstigen Kumpels, wenn sie wirklich Glück hatten, einen Schwinger einsackten, der zu leichtem Nasenbluten führte. Meistens endete das Gefecht damit, dass der Angreifer umkippte. Dass er die Balance verlor und zu Boden ging.
Es war einmal. Und ist nicht mehr. Anne-kin studiert die Kreidezeichnung eines Männerkörpers und denkt, armer Teufel. Und die armen anderen. Suffköppe, die diese Auseinandersetzung gestartet hatten, denn wir leben in der Neuen Zeit, und dazu gehört es, ein Messer zu haben, mit einem Messer zu drohen, mit einem Messer zu fuchteln. Und einen tödlichen Stich einzusacken. Einen tödlichen Stich. Der ihnen sicher eine Heidenangst eingejagt hat, sie hatte brüllen lassen, jetzt müsse er verdammt noch mal aufwachen und auf die Beine kommen und wenn er da rumliegen und den toten Mann markieren wolle, dann hätten sie zum Teufel noch mal keine Lust, mitzuspielen. Und hauten ab. Danke für den Schnaps, Alter.
Kommissarin Anne-kin Halvorsen zieht ihren Kopf noch tiefer in den Kragen und lässt Vang den Kreidekörper anstarren. Sie drehte sich zum Fjord um. Fröstelt. Der Fjord ist wirklich weiß und Vangs Berge sehen wirklich aus wie eine Theaterkulisse mit viel zu grellen Farben. Eine hochschwangere Septembersonne suhlt sich über den Gipfeln, vergoldet die Berge, den Fjord. Und den Hafen. Es ist schön. Wenn es nur
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