Ich bin die Nacht
1.
Das flackernde Blaulicht seines Streifenwagens tanzte über die Fensterscheiben der Tankstelle. Trooper Jim Morgan versuchte angestrengt, durch die zuckenden Reflexionen in das dunkle Innere des Gebäudes zu blicken. Die Zentrale hatte einen Raubüberfall gemeldet, aber aus einem unerfindlichen Grund regte sich am Rand von Jims Bewusstsein ein irrationales, aber überwältigend starkes Gefühl des Grauens. Erklären konnte Jim es nicht. Er wusste nur, das hier war viel schlimmer. Vielleicht war es der Instinkt des Polizisten, vielleicht Intuition. Er wusste jedenfalls, dass hier etwas nicht stimmte, ganz und gar nicht.
Jim atmete tief ein und wieder aus. Als er aus dem Streifenwagen stieg, drängte er das Gefühl beiseite, dass irgendetwas Grauenhaftes ihn erwartete.
Jim fiel auf, dass der Mond nicht schien. Die Finsternis wirkte außerhalb der hellen Teiche, das die Lichter des Streifenwagens und der Tankstelle bildeten, trostlos, wie für die Ewigkeit. Es war, als säße Jim am Rand der Welt und blickte in ein erloschenes Universum, in dem nichts anderes mehr existierte als er selbst.
Wieder schaute er zur Tankstelle.
Wieder überfiel ihn das unerklärliche Grauen.
Nur konnte er nichts und niemanden als Quelle seiner Angst ausmachen, und das bereitete ihm noch größere Furcht. Er hatte sich immer schon am meisten vor dem gefürchtet, was man nicht benennen konnte. Er überlegte, zu Hause anzurufen und sich zu vergewissern, dass mit seiner Frau und seiner Tochter alles in Ordnung war, doch nach einem Blick auf die Uhr entschied er sich dagegen. Er wollte Emily nicht aus dem Schlaf reißen.
»Alles okay?«, fragte Trooper Tom Delaine, Jims Partner bei der State Police. »Du ziehst ein Gesicht, als hätten sie dir in die Cornflakes gepinkelt.«
»Nein, alles bestens. Bringen wir’s hinter uns. Ich gehöre längst schon ins Bett, und ich will nur noch nach Hause.«
Tom war anzumerken, dass er mit Jims Antwort nicht ganz zufrieden war, aber er nickte und ging auf die Eingangstür der Tankstelle zu. Beide Männer hatten ihre Waffen nicht gezogen, denn sie wussten von der Leitstelle, dass der Täter bereits geflohen war. Trotzdem musste ein Bericht geschrieben werden, und der Tankwart hatte darauf beharrt, dass sofort ein Gesetzeshüter vorbeikam.
Als sie das Tankstellenhäuschen mit dem üblichen Lebensmittelangebot betraten, bemerkte Jim einen seltsam vertrauten Geruch, ohne dass er hätte sagen können, was es war. Er schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich.
Von der Tür aus ließ er den Blick durch den Raum schweifen. Die Kassentheke stand parallel zur Tür vor der rückwärtigen Wand. Dahinter saß ein Mann mit dunklem Haar und durchdringenden grauen Augen. Ein schwarzes T-Shirt spannte sich über seiner Brust. Darunter zeichneten sich harte Muskeln ab. Der Mann sagte kein Wort, starrte die beiden Trooper nur ausdruckslos an.
Als ihre Blicke sich trafen, bewegte Jim instinktiv die Hand näher zur Waffe an seinem Gürtelholster.
»Schöne Nacht, was?«, sagte der Tankwart. »Die Dunkelheit ist … wie soll ich sagen? Bedrückend, ja, das trifft’s. Sie hat Gewicht.«
So ganz begriff Jim diesen Gedankengang nicht, der bedrückende Dunkelheit mit einer schönen Nacht in Beziehung setzte. Einem Menschen, in dessen Vorstellung beides zusammengehörte, sollte man mit Vorsicht begegnen. Jims Partner jedoch schien der innere Widerspruch zu entgehen. Tom zog nur die Brauen hoch und fragte: »Haben Sie den Raubüberfall gemeldet, Sir?«
»Nein«, erwiderte der Mann, »ich habe einen Mord gemeldet.«
Jim stockte der Atem. Er hielt die rechte Hand über das Pistolenholster, aber noch zog er die Waffe nicht.
»Wer wurde ermordet?«, fragte Tom.
Der Tankwart gab keine Antwort. Jim war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte zu sehen, wie ein mühsam unterdrücktes Grinsen über das Gesicht des Mannes huschte. Jim beugte sich vor und schaute zwischen zwei Regalzeilen.
Tom blickte in die gleiche Richtung.
Der entsetzliche Anblick traf sie beide wie ein Schlag ins Gesicht.
Der Tote am Ende des Gangs war nackt. Überall war Blut. Tiefe Schnittwunden entstellten den Körper, der auf schreckliche Weise verstümmelt war. Dem männlichen Opfer waren die Augen ausgestochen worden.
Blitzschnell zogen die Trooper ihre Waffen und richteten sie auf den seltsamen Mann an der Kasse. Tom trat einen Schritt vor. »Halten Sie die Hände so, dass ich sie sehen kann! Na los!«
Der Verdächtige machte keine
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