Ich bin ein Stern
ungefähr hundert überlebt. Ich bin eines von ihnen. Mindestens anderthalb Millionen Kinder wurden von den Nazis ermordet. Die meisten von ihnen nur deshalb, weil sie Juden waren.
Viele Jahre sind seit jenen Ereignissen in meiner Kindheit vergangen, doch manchmal versetzen mich ganz bestimmte Dinge in die Vergangenheit zurück, Dinge wie eine Uniform, hohe schwarze
* Deportation: Zwangsverschickung in Ghettos, Konzentrationslager und Vernichtungslager
Stiefel oder das Pfeifen einer Eisenbahnlokomotive. Während eines Urlaubs in Kanada weckte der Anblick der alten Festungsmauern in der Stadt Quebec solche Erinnerungen in mir. Die hohen, roten Backsteinmauern schienen sich um mich zu schließen. Ich hatte Angst. Es war, als wäre ich wieder in der Tschechoslowakei. Das Gestern wurde zum Heute. Das war nicht mehr Quebec, es war Theresienstadt. Und ich war wieder in der Zeit, als der Alptraum begann.
Ich wurde am 31. Dezember 1934 in Kippenheim geboren, einem Dorf in Süddeutschland. Kippenheim liegt am Fuß des Schwarzwalds, nicht weit
von den Grenzen zu Frankreich und der Schweiz. Die ungefähr zweitausend Einwohner bestanden aus etwa sechzig jüdischen und fast vierhundert fünfzig katholischen und evangelischen Familien. Meine Familie war nicht reich, aber auch nicht arm. Papa besaß ein Textilgeschäft. Seit mindes
tens zweihundert Jahren hatten Juden in Kippenheim gelebt. Ich war das letzte jüdische Kind, das dort geboren wurde.
Die Synagoge, wie man das jüdische Bet- und Versammlungshaus nennt, war das Zentrum unseres Lebens. Ich erinnere mich noch gut, wie schön sie war. Die prachtvollen Kronleuchter zogen immer meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich hatte auch jedes Mal ein besonderes und seltsames Gefühl, wenn ich Kantor Schwab unsere hebräischen Gebete singen hörte. Die meisten Juden von Kippenheim besuchten den Schabbatgottesdienst am Samstagmorgen. An unseren Feiertagen herrschte
immer eine festliche Atmosphäre und wir trugen unsere besten Kleider. Es war üblich, dass man sich nach dem Besuch der Synagoge gegenseitig besuchte und einen Fremden zu sich nach Hause zum Essen einlud.
Purim war ein sehr wichtiges Fest für mich, als ich ein kleines Mädchen war. Zeitlich liegt es ganz nahe bei Fastnacht und die Kinder verkleiden sich auch dabei. Zusammen mit den anderen jüdischen Kindern von Kippenheim, die alle kostümiert waren, gingen wir zu den jüdischen Häusern im Dorf, sangen ein Lied oder sagten ein Gedicht auf und wurden dafür mit Süßigkeiten belohnt.
Purim wird zur Erinnerung an die Rettung der Juden im alten Perserreich gefeiert. Esther, die jüdische Frau des Königs Ahasverus, hatte vom Plan des Großwesirs Hamman erfahren, alle Juden töten zu lassen.
Ein anderer wichtiger Feiertag ist bei Kindern sehr beliebt. Das ist Chanukka, das Weihefest. Es wird im Dezember gefeiert und dauert acht Tage. Das Chanukka-Fest erinnert an den Sieg der Makkabäer über das Seleukidenreich im Jahre 164 v.Chr. und die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem. Judas Makkabäus fand ein Ölfläsch-chen, dessen Inhalt reichte, um den siebenarmigen Leuchter im Tempel einen Tag lang brennen zu lassen. Doch ein Wunder geschah und der Leuchter brannte acht Tage. An diesen acht Feiertagen wird nun ein besonderer achtarmiger Chanukkaleuchter verwendet. Jeden Abend wird eine Kerze mehr angezündet, bis alle brennen, und dann bekommen die Kinder Geschenke. Ich war immer sehr glücklich, wenn dieser Feiertag nahte, und wartete voller Vorfreude auf die Geschenke, so wie es christliche Kinder an Weihnachten tun.
Unter der jüdischen Bevölkerung in Kippenheim bestand eine starke Verbundenheit. Wir fühlten uns, als wären wir alle Mitglieder einer weit verzweigten Familie. Viele der christlichen Einwohner im Dorf waren Bauern, während die Juden kleine Läden hatten und mit Textilien oder Vieh handelten. Wir waren eine freundliche Gemeinde, und beide, Christen und Juden, fühlten sich als deutsche Bürger, in Frieden und Krieg.
Papa war im Ersten Weltkrieg Soldat der deutschen Armee gewesen. Er war erst achtzehn Jahre alt, als eine feindliche Kugel seine rechte Schulter traf und ihn schwer verwundete. Für Tapferkeit vor dem Feind und den Dienst an seinem Volk war er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden.
Ich war das einzige Kind von Berthold und Regina Auerbacher. Papas Familie hatte sich vor ungefähr zweihundert Jahren in Kippenheim niedergelassen.
Die meisten Mitglieder unserer Familie
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