Ich bin kein Serienkiller
Irgendwie waren die Tiere für mich keine Lebewesen, sondern nur Spielzeuge gewesen, die ich eben benutzt hatte. Gegenstände und keine Geschöpfe.«
»Warum hast du damit aufgehört, obwohl du gar nicht das Gefühl hattest, dass es falsch war?«, wollte Dr. Neblin wissen.
»An diesem Punkt wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich anders bin als die anderen«, erklärte ich. »Ich hatte die ganze Zeit etwas getan, ohne mir etwas dabei zu denken, und auf einmal fand ich heraus, dass alle anderen Menschen es für abscheulich hielten. Da wurde mir klar, dass ich mich ändern musste, und deshalb stellte ich Regeln auf. Die erste lautete: Quäl keine Tiere.«
»Töte sie nicht?«
»Tu ihnen überhaupt nichts«, ergänzte ich. »Ich wollte kein Haustier haben, ich wollte auf der Straße keine Hunde streicheln und nicht einmal ein Haus betreten, in dem ein Tier gehalten wird. Ich vermeide jede Situation, die mich verleiten könnte, etwas Verbotenes zu tun.«
Neblin betrachtete mich eine Weile. »Gibt es noch weitere Regeln?«, fragte er.
»Wann immer ich den Wunsch verspüre, jemandem wehzutun«, sagte ich, »mache ich ihm ein Kompliment. Wenn mir jemand wirklich auf die Nerven geht, bis ich ihn so sehr hasse, dass ich ihn umbringen könnte, dann sage ich etwas Nettes und setze mein strahlendstes Lächeln auf. Das zwingt mich, freundliche Gedanken und keine bösen zu haben, und meistens verschwinden die bösen Gedanken dann wie von selbst.«
Wieder überlegte Neblin eine Weile, ehe er antwortete. »Liest du deshalb so viel über Serienkiller?«, fragte er. »Weil du nicht wie andere Menschen zwischen Richtig und Falsch unterscheiden kannst, willst du herausfinden, was du vermeiden musst?«
Ich nickte. »Es ist natürlich auch ziemlich cool, so was zu lesen.«
Er machte sich Notizen.
»Welche Regel hast du heute gebrochen?«, fragte er.
»Ich bin zu der Stelle gegangen, wo Jeb Jolleys Leiche gefunden wurde«, erwiderte ich.
»Ich habe mich schon gewundert, dass du ihn nicht längst erwähnt hast«, sagte er. »Gibt es auch eine Regel, den Tatorten von Gewaltverbrechen fernzubleiben?«
»Eigentlich nicht. Deshalb konnte ich auch vor mir rechtfertigen, mir den Tatort anzusehen. Ich habe keine bestimmte Regel gebrochen, aber ich habe gegen ihren Geist verstoßen.«
»Warum bist du hingegangen?«
»Weil dort jemand getötet wurde«, sagte ich. »Ich … ich musste es einfach sehen.«
»Warst du ein Sklave deiner Zwänge?«, fragte er.
»Das sollten Sie aber nicht gegen mich verwenden.«
»Mir bleibt nichts anderes übrig«, erwiderte Neblin. »Ich bin Therapeut.«
»In der Leichenhalle sehe ich ständig Tote«, fuhr ich fort. »Das ist aber ganz in Ordnung. Mom und Margaret arbeiten schon seit Jahren dort und sind auch keine Serienmörderinnen. Ich sehe eine Menge lebendige und tote Menschen, war aber noch nie Zeuge, wie ein lebendiger Mensch sich in einen Toten verwandelte. Ich bin … neugierig.«
»Bietet dir der Schauplatz eines Verbrechens die Möglichkeit, dem Verbrechen nahezukommen, ohne es selbst zu begehen?«
»Ja«, gab ich zu.
»Hör mal, John.« Neblin beugte sich vor. »Du zeigst, wie ich zugeben muss, einige Aspekte des Verhaltens eines Serienmörders. Sogar mehr, als ich je bei einem Menschen beobachtet habe. Dabei darfst du jedoch nicht vergessen, dass diese Aspekte lediglich Hinweise darauf sind, was passieren könnte , aber keine Vorhersage erlauben, dass es auch passieren wird . Fünfundneunzig Prozent der Serienmörder machen ins Bett, legen Feuer und quälen Tiere, aber das heißt nicht, dass fünfundneunzig Prozent aller Kinder, die dies tun, zwangsläufig Serienmörder werden. Du hast immer die Möglichkeit, dein Schicksal frei zu wählen, und du bist derjenige, der entscheidet. Niemand sonst. Die Tatsache, dass du dir Regeln aufgestellt hast und sie gewissenhaft befolgst, sagt viel über dich und deinen Charakter aus. Du bist ein guter Mensch, John.«
»Ich bin ein guter Mensch, weil ich weiß, wie gute Menschen sich verhalten, und weil ich sie kopiere«, antwortete ich.
»Wenn du so gründlich bist, wie du behauptest«, erklärte Neblin, »wird niemand jemals einen Unterschied bemerken.«
»Aber wenn ich mal nicht gründlich genug bin?« Ich blickte aus dem Fenster. »Wer weiß, was dann geschieht?«
DREI
Mom und ich aßen in unserer Wohnung über der Leichenhalle schweigend zu Abend. Die Pizzaschachtel und der Fernseher ersetzten das Gemeinschaftsgefühl und die Gespräche
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