Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
»sollen sie doch ungebildet bleiben.«
Lehrer sind meist nicht erfreut, an solch abgelegene Schulen berufen zu werden, und für gewöhnlich trafen sie eine Abmachung, nach der an jedem Schultag nur einer von ihnen seines Amtes waltete. Hatte die Schule zwei Lehrer, unterrichtete der eine drei Tage hintereinander, dann wurde er von dem anderen abgelöst. Waren es drei Lehrer, reduzierte sich die Arbeit auf zwei Tage. Die Hauptaufgabe bestand damals darin, die Kinder mit einem langen Stock ruhig zu halten, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass Bildung ihnen irgendeinen Nutzen brachte.
Mein Onkel war pflichtbewusster. Er mochte die Bergbewohner und achtete ihr rauhes Leben. Daher ging er an den meisten Tagen in die Schule und bemühte sich, den Kindern etwas beizubringen. Als mein Vater die Schule abgeschlossen hatte, half er seinem Bruder aus, und dabei nahm sein Schicksal eine andere Wendung. Er lernte einen Mann namens Nasser Pacha kennen. Dieser hatte viele Jahre in Saudi-Arabien auf dem Bau gearbeitet, Geld verdient und nach Hause geschickt. Seine Familie lebte in einem Dorf unweit von Saidu Sharif.
Ziauddin berichtete ihm, dass er gerade die Schule abgeschlossen und einen Studienplatz am Jehanzeb-College bekommen habe. Um seinen Vater nicht zu blamieren, sagte er nicht, dass er es sich nicht leisten konnte, den Studienplatz anzunehmen.
»Möchten Sie nicht bei uns wohnen?«, fragte Nasser Pacha.
»Bei Gott, was war ich glücklich«, bemerkte mein Vater, als er mir von dieser Begegnung berichtete. Nasser Pacha und seine Frau wurden seine zweite Familie. Sie wohnten in Spal Bandi, einem hübschen Bergdorf auf dem Weg zum Weißen Palast, ein romantischer, lebendiger Ort, so mein Vater. In Begleitung seines Schwagers fuhr er mit dem Bus dorthin. Er war überwältigt, wie schön und weitläufig Spal Bandi im Vergleich zu seinem Heimatdorf war. Es war so groß, dass er glaubte, in eine Stadt gekommen zu sein. Als Gast des ganzen Dorfes wurde er ausnehmend gut behandelt. Jajai, Nasser Pachas Frau, ersetzte meinem Vater die tote Mutter, sie wurde zur wichtigsten Frau in seinem Leben. Als die Dorfbewohner sich bei ihr beschwerten, weil er mit einem Mädchen flirtete, das auf der anderen Straßenseite wohnte, nahm sie ihn in Schutz. »Ziauddin ist so sauber wie ein frischgelegtes Ei«, sagte sie. »Passt lieber auf eure eigenen Töchter auf.«
Beim Besuch in Sappal Bandi, wo mein Vater studiert hat.
In Spal Bandi bekam mein Vater zum ersten Mal Frauen zu sehen, die viel Freiheit hatten und nicht versteckt wurden wie in seinem Heimatdorf. Die Frauen von Spal Bandi hatten auf einem Hügel einen eigenen Platz, wo sie sich treffen konnten. Da oben konnten sie von allen gesehen werden, was ungewöhnlich war und als fortschrittlich galt. In dieser Ortschaft lernte mein Vater auch seinen Gönner Akbar Khan kennen, der ihm Geld lieh, damit er seine Ausbildung fortsetzen konnte. Wie meine Mutter hatte Akbar Khan keine Schulbildung, dafür besaß er aber eine besondere Art von Klugheit.
Mein Vater hat die Geschichte von Akbar Khans und Nasir Paschas Güte oft erzählt, um zu zeigen, dass einem unerwartet Hilfe zuteilwerden kann, wenn man selbst anderen geholfen hat.
***
Der Eintritt meines Vaters ins College geschah in einem wichtigen Moment der pakistanischen Geschichte. In jenem Sommer, in dem er zum ersten Mal in den Bergen von Spal Bandi wanderte, wurde unser Diktator, General Zia, bei einem mysteriösen Flugzeugunglück getötet. Man sagte, es sei durch eine Bombe ausgelöst worden, die in einer Kiste mit Mangos versteckt war. Während mein Vater im ersten Semester war, wurden Wahlen abgehalten, aus denen Benazir Bhutto als Siegerin hervorging, die Tochter jenes Premierministers, den man hingerichtet hatte, als mein Vater ein Junge war. Benazir war unsere erste Premierministerin, die erste in der islamischen Welt. Auf einmal herrschte viel Optimismus im Hinblick auf die Zukunft.
Studentenorganisationen, die unter Zia verboten gewesen waren, wurden plötzlich sehr aktiv. Mein Vater befasste sich mehr mit Politik und festigte seinen Ruf als guter Redner und Debattierer. Er wurde Generalsekretär des Paschtunischen Studentenverbands ( PSF ), der gleiche Rechte für Paschtunen forderte, da in unserem Land die wichtigsten Posten in Armee, Bürokratie und Regierung ausnahmslos von Punjabis besetzt waren.
Der andere große Studentenverband war Islami Jamaat-e-Talaba, der studentische Flügel der religiösen
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