Ich bin Nummer Vier
überqueren eine Brücke. Unter uns fließt das Wasser, es ist ruhig, das Mondlicht schimmert auf den kleinen Wellen und malt ihnen weiße Tupfen auf die Kronen. Rechts ist das Meer, links der Golf; eigentlich ist es dasselbe Wasser, aber es trägt verschiedene Namen. Ich würde gern weinen, verkneife es mir aber. Natürlichbin ich traurig, weil ich Florida verlassen muss, aber vor allem habe ich es satt, davonzulaufen, mir alle sechs Monate einen neuen Namen zuzulegen. Ich habe genug von neuen Häusern und neuen Schulen. Ob wir damit jemals werden aufhören können?
3
Wir halten, tanken und besorgen uns Snacks und neue Telefone. In einem Truck Stop essen wir Hackbraten mit Makkaroni und Käse – eines der wenigen Gerichte, die Henri für besser hält als das, was es auf Lorien gab. Dann macht er auf seinem Laptop Dokumente mit unseren neuen Namen fertig. Er wird sie ausdrucken, sobald wir angekommen sind, und jeder wird glauben, dass wir die Personen sind, deren Namen da stehen.
»Bleibst du bei John Smith?«, fragt Henri.
»Ja.«
»Geboren bist du in Tuscaloosa, Alabama.«
Das finde ich lustig. »Wie bist du denn darauf gekommen?«
Er lacht und deutet auf zwei Frauen, die nicht weit von uns sitzen. Beiden scheint es heiß zu sein. Eine trägt ein T-Shirt, auf dem steht:
»Und dahin ziehen wir dann danach«, sagt er.
»Auch wenn es verrückt klingt – ich hoffe, wir bleiben lange in Ohio.«
»Aber wirklich. Gefällt dir der Gedanke, in Ohio zu leben?«
»Mir gefällt der Gedanke, ein paar Freunde zu finden, mehr als ein paar Monate in dieselbe Schule zu gehen, vielleicht tatsächlich ein Leben wie alle anderen zu führen. In Florida habe ich damit angefangen. Es war toll, und zum ersten Mal seit wir auf der Erde sind, habe ich mich fast normal gefühlt. Ich möchte irgendwo einen Ort finden und irgendwo bleiben.«
Henri schaut mich nachdenklich an. »Hast du heute schon nach deinen Narben gesehen?«
»Nein, warum?«
»Weil es hier nicht um dich geht. Es geht um das Überleben unserer Rasse, die fast ganz ausgelöscht wurde, und darum, dich am Leben zu halten. Jedes Mal, wenn einer von euch stirbt – einer von der Garde –, verringern sich unsere Chancen. Du bist Nummer Vier, du bist der Nächste. Dich verfolgt eine komplette Rasse heimtückischer Mörder. Beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten gehen wir fort, und darüber werde ich nicht mit dir diskutieren.«
Henri fährt die gesamte Strecke. Bis auf ein paar Pausen, vorwiegend für die Herstellung der neuen Dokumente, sind das etwa dreißig Stunden. Ich schlafe fast die ganze Zeit oder spiele Videospiele. Wegen meiner schnellen Reflexe beherrsche ich die meisten Games rasch. Dabei stelle ich mir vor, ich bin wieder auf Lorien und kämpfe gegen Mogadori, schlage sie nieder, mache Asche aus ihnen. Henri findet das albern und versucht mich davon abzuhalten. Er sagt, wir müssen in der wirklichen Welt leben, wo Krieg und Tod Realität sind, wir sollen nicht so tun, als ob. Nachdem ich mein letztes Spiel beendet habe, blicke ich auf. Ich habe es satt, im Truck zu sitzen. Die Anzeige auf dem Armaturenbrett zeigt sieben Uhr achtundfünfzig.
Ich gähne und reibe mir die Augen. »Ist es noch weit?«
»Wir sind fast da«, antwortet Henri.
Draußen ist es noch dunkel, doch im Westen zeigt sich schon ein heller Schein. Wir fahren an Farmen mit Pferden und Vieh vorbei, dann an kahlen Feldern; dahinter stehen Bäume, so weit das Auge reicht. Das ist genau das, was Henri wollte – ein ruhiger Ort, wo man unauffällig leben kann. Einmal in der Woche recherchiert Henri im Internet sechs, sieben, acht Stunden hintereinander und aktualisiert eine Liste mit leer stehenden Häusernim ganzen Land, die seinen Ansprüchen genügen: abgeschieden, ländlich, sofort zu beziehen. Er hat mir gesagt, dass vier Versuche nötig waren – ein Anruf in South Dakota, einer in New Mexico, einer in Arkansas –, bis er das Haus mieten konnte, in dem wir jetzt wohnen werden.
Ein paar Minuten später sehen wir verstreute Lichter, die auf eine Stadt hinweisen, und fahren an einem Schild vorbei mit der Aufschrift:
»Wahnsinn«, sage ich. »Das Nest ist noch kleiner als das, in dem wir in Montana gewohnt haben.«
Henri grinst. »Und für wen, glaubst du, ist es ein Paradies?«
»Für Kühe vielleicht? Vogelscheuchen?«
Wir fahren an einer alten Tankstelle vorbei, einer Autowaschanlage, einem Friedhof. Dann kommen die Häuser; Holzhäuser, die etwa hundert Meter
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