0866 - Die Herrin der Raben
Kretchmer schüttelte fast zornig den Kopf, um diesen furchtbaren Gedanken loszuwerden. Er schaffte es nicht. Im Gegenteil.
Sieht wie ein Leichentuch aus, dachte er, als er zum Brunnen hinüberblickte. Seine Blicke wanderten zum Kapuzinerkloster zurück. Der hellorange gestrichene Bau leuchtete in der strahlenden Sonne. Dicht an dicht drängten sich die Raben auf den Dachfirsten, auf dem Vordach des Eingangsbaues und auf den Fenstersimsen. Auch auf dem großen Kreuz, das den Mittelbau zierte, krallten sie sich fest.
Und das Kloster sieht plötzlich aus, als sei es von einem schwarzen Trauerrand eingerahmt , sinnierte Kretchmer weiter. Ein passender Rahmen für den Schwarzen Tod…
Die Ströme von Touristen, die sich gerade noch munter auf den Gehsteigen rund um den Sakralbau bewegt hatten, die in die Kaisergruft wollten oder von dort kamen, wirkten jetzt wie eingefroren. Vor allem die vielen Japaner fotografierten, was das Zeug hielt. Andere beobachteten das Phänomen, deuteten aufgeregt zu den Dächern hoch oder schlugen nach vorwitzigen Raben, die sich ihnen furchtlos näherten. Ein Kind schrie schrill und panisch, ein Hund kläffte und zog wie irrsinnig an der Leine. Zwei der schwarzen Vögel hackten nach ihm.
Wie auf ein geheimes Kommando hin erhoben sich die Raben wieder, flatterten kreuz und quer über dem Neuen Markt und verschwanden kurz darauf hinter den Dächern.
Jerry Kretchmer atmete tief durch. Noch immer liefen eiskalte Schauer über seinen Rücken. Ganz langsam kam wieder Bewegung in die erstarrte Szene.
Eine Frau drängte sich zwischen den Autos hindurch, die den großen Parkplatz vor dem Kapuzinerkloster vollständig belegten, und steuerte mit einem aufgeregten Winken direkt auf Kretchmer zu.
Oh nein, wie hat sie mich jetzt bloß wieder gefunden?, dachte der groß gewachsene, blonde Amerikaner mit der Bodybuilder-Statur und fühlte Zorn in sich hochsteigen. Kriege ich die gar nicht mehr los? Die ist ja lästiger als eine Zecke…
Noch hasste Kretchmer die blonde, aufgedonnerte Amber Haggerman mit der allzeit umgehängten Kamera nicht. Viel fehlte allerdings nicht mehr. Die Engländerin mit den knallroten Lippen, dem übertriebenen Make-up und dem billigen Parfüm versuchte seit zwei Tagen, ihn ins Bett zu bekommen. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund, um ihm ja keine Wahl zu lassen, ihr Angebot eventuell missdeuten zu können. Kretchmer hätte sich allerdings viel lieber die Hand abhacken lassen, als diesen Drachen auch nur einmal zu berühren. Oder gar mit ihr… Absolut schreckliche Vorstellung!
»Hallo, Jerry!«, rief sie schon von Weitem. »Na so ein Zufall, dass ich gerade Sie hier treffe.«
Zufall, ja…
Amber Haggerman keuchte heran, kurzatmig, schweißbedeckt, mit wogendem Busen. Das enge T-Shirt mit dem riesigen Ausschnitt zeigte mehr davon, als dass es verbarg. Und das Hellgrün des knielangen Rocks biss sich förmlich mit dem Zitronengelb des Oberteils. Wie eine billige Karikatur sah sie aus. Kretchmer wäre am liebsten aufgestanden und gefluchtet. Nichts schien ihm unerträglicher als die Vorstellung, die Leute könnten ihn mit dieser Frau, die gut fünfzehn Jahre älter war als er, in Verbindung bringen. Doch seine Eltern, einfache Farmer in Wisconsin, hatten ihn gelehrt, freundlich und höflich zu jedermann zu sein. Und gutmütig war er überdies. Also blieb er sitzen und lächelte säuerlich.
»Hallo, Amber.«
Sie hielt sich an der Stuhllehne fest. »Darf ich mich ein wenig zu Ihnen setzen, Jerry?« Ohne die Antwort abzuwarten, zwängte sie sich um das Sitzmöbel herum und ließ sich hineinplumpsen, die Beine geradezu unanständig gespreizt.
»Haben Sie das gerade auch gesehen, Jerry?«
Ja glaubst du vielleicht, dass ich Steine statt Augen im Kopf habe, du altes Schrapnell ?, wollte er aufbrausen, beließ es dann aber bei einem gemurmelten »Natürlich.«
»Unglaublich, was? Eine ganze Rabeninvasion. Das war ja wie in diesem Film von Hitchborn. ›Die Vögel‹, oder wie der damals hieß.«
»Hitchcock. Der Mann hieß Hitchcock.«
»Tatsächlich? Hm, was Sie alles wissen, Jerry. Unglaublich. Aber der Film hieß schon ›Die Vögel‹. Oder?« Sie musterte ihn dabei, als wolle sie ihn gleich jetzt und hier auf der Stelle vernaschen.
Wie ein gieriger Hai…
»Jetzt brauche ich erst mal eine Melange. Kellner!« Amber Haggerman winkte ihn aufgeregt herbei. Dann verwischte sie mit einem Taschentuch ihre hellblaue Augenschminke und wandte sich wieder dem
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