Codename Hélène
PROLOG
K ennst du diese Frau?«, hatte mein Freund Erich auf die Kopie eines Artikels aus dem britischen Wochenmagazin The Economist vom 13 . August 2011 geschrieben und hinzugefügt: »What a life – was für ein Leben!« Am Sonntag zuvor, am 7 . August, war in den Londoner Royal Star & Garter Homes das Leben jener Frau erloschen. Für die Economist -Redaktion ein Ereignis von internationaler Bedeutung, denn im aktuellen Heft erwies sie der Toten mit einem ganzseitigen Nachruf die ihr offenbar gebührende letzte Ehre: Nancy Wake, verstorben im Alter von 98 Jahren, sei eine der »gefürchtetsten Agentinnen« des britischen Geheimdienstes gewesen, erfolgreich im Zweiten Weltkrieg als Fluchthelferin abgeschossener britischer Piloten, furchtlos bei Sabotageakten und Attentaten gegen die Deutschen während der Besetzung Frankreichs zwischen 1940 und 1944 , mutig in vorderster Reihe bei den Kämpfen der Résistance und des Maquis gegen die SS , nach der Befreiung deshalb ausgezeichnet mit vielen hohen Orden für ihre außergewöhnliche Tapferkeit.
Von der Frau, deren Leben hier in knappen Sätzen beschrieben wurde, hatte ich noch nie etwas gehört. Erste Annäherungen per Eingabe ihres Namens in Suchmaschinen des Internet schienen die Würdigung zu bestätigen: ein erfülltes Leben sogar dann, falls nur die Hälfte von dem stimmte, was weltweit in Nachrufen über sie jetzt gedruckt wurde: nicht nur in England und Irland, sondern auch in den USA , in Australien, in Frankreich, in Neuseeland usw.
Manches mutete allerdings an, als hätte ein mit Fantasie begabter Autor alle bekannten und im kollektiven Bewusstsein archivierten Berichte über Spione und Krieg, Gestapo und Résistance, Verrat und Courage, Völkermord und Vergeltung zu einer modernen Heldensaga verdichtet. Und diese, frei nach dem zynischen Motto des ja nicht nur online real existierenden Journalismus, wonach Tote keine Gegendarstellungen mehr schicken, im Netz über die Welt verteilt. Dankbar schrieben davon viele ab, die nicht über eigene Quellen oder Erkenntnisse verfügten.
Da Nancy Wake kurz vor ihrem 99 . Geburtstag gestorben war, musste sie 1912 geboren sein. So viel immerhin stand fest. Also war sie 27 gewesen, als 1940 ihr geheimes Leben im Schatten begann, das jetzt nach ihrem Tod in den Nachrufen noch ein letztes Mal erhellt wurde. Nachdem ich Fotos von ihr aus jener Zeit gesehen hatte, gab es außerdem keine Zweifel am Wahrheitsgehalt der Beschreibungen ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung. Nancy Wake war in der Tat eine schöne Frau.
Aus solchen Stoffen werden Legenden gewoben oder Blockbuster für die große Leinwand gestrickt. Nicht wirklich überraschend deshalb, dass ihre Geschichte angeblich längst verfilmt worden war, wie das Internet mir suggerierte. Die Liebe der Charlotte Gray hieß der Film, und der hatte bereits 2001 Premiere in den Kinos. In der britisch-australischen Produktion (Regie: Gilian Armstrong) spielte Cate Blanchett die Titelfigur der Engländerin Charlotte Gray, die Sebastian Faulks für seinen gleichnamigen Roman erdacht hatte, auf dem das Drehbuch beruht. Doch vieles, was im Film zu sehen ist, würde der Biografie von Nancy Wake entsprechen.
Laut Drehbuch lässt sich Cate Blanchett alias Charlotte Gray aus Schmerz über ihren vermissten und wahrscheinlich mit seinem Flugzeug über Feindesland abgeschossenen Royal-Air-Force-Geliebten vom britischen Geheimdienst anheuern und zur Agentin ausbilden. Sie will seinen Tod rächen. In einer Mondnacht springt sie per Fallschirm über Frankreich ab, schließt sich der Untergrundarmee des Maquis gegen die deutschen Besatzer an, erlebt auf dem Land die Verfolgung der Juden durch die SS und deren willige Helfer von der faschistischen französischen Miliz, kämpft als einzige Frau unter Männern und verliebt sich in einen der jungen Widerstandskämpfer.
Liebe in Zeiten des Krieges aber hat keine Überlebenschancen. Das Paar muss sich trennen. Er wird weiter bis zum Sieg oder seinem bitteren Ende gegen die Deutschen kämpfen, sie flieht mithilfe einer Spezialeinheit zurück nach London, wo sie, weil das Leben im Kino nun mal spielend eingesetzt werden kann, dann doch wieder ihren einstigen Geliebten trifft. Er hat nicht nur den Abschuss überlebt, es war ihm auch gelungen, sich über Spanien nach England durchzuschlagen. Aber diese frühe, für alle Abenteuer ausschlaggebende Liebe ist inzwischen kälter als der Tod. Als der Krieg vorbei ist, die Nazis besiegt und Europa
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