Ich bin unschuldig
Leben, diese schrecklichen Dinge. Man wünscht, sie wären nicht real, und mitten in der Nacht setzt das Herz einen Schlag aus. Doch dann prallen sie ab wie Steine von einer Windschutzscheibe, und nach einer Weile muss man zu seiner Schande gestehen, dass man die winzige Kerbe in der Ecke gar nicht mehr bemerkt. Man macht mit seiner kleinen Existenz weiter, sorgt sich um die eigenen kleinen Probleme – ein liebloser Mann, ein anmaßender Kollege. Doch dies, dieser Tod, hat alles auf den Kopf gestellt. Er ist zu nah. Niemand ist sicher. Dies ist eine Welt, in der Menschen andere Menschen töten. Der Tod kommt nicht immer langsam, über Monate oder Jahre, wie bei meiner Mutter. Er kann sekundenschnell kommen, von außen. In wenigen Sekunden. Ein Seil um den Hals, ziehen, mehr braucht es nicht. Bei diesem Gedanken wird mir schwindlig, als würde ich jeden Augenblick stürzen.
Das Auto vibriert an der Ampel. Mein perfektes Leben. Was ist es im Vergleich dazu? Nichts. Ich denke nicht an den Tod des Mädchens, sondern an seine Geburt. An seine Mutter. Seine Eltern. Die Schule. Sommerferien. Jobs. Familie. Freunde. Freund. Hat man es ihnen schon gesagt? Weiß die Polizei schon, wer sie ist? War. Mochte sie ihr Leben, oder hat sie sich ein anderes gewünscht? Ich habe angefangen zu zittern, obwohl es hier hinten warm ist.
Die BBC -Nachrichten-App auf meinem iPhone erwähnt die Sache noch mit keinem Wort. Kein kleiner Pfeil oder Kasten mit »Neu«. Keine »Eilmeldung«. Ist es überhaupt eine Nachricht? Ich weiß nicht. Ein Torso, der in Limehouse auf dem Wasser hüpfte, ein Müllbeutel mit Gliedmaßen, der im Regent’s Canal schwamm, das waren Nachrichten. Aber bei ganzen Toten ist es vielleicht etwas anderes. Vielleicht sind unversehrte Tote etwas ganz Normales. Vielleicht werden in öffentlichen Parks in anderen Vororten – Bexleyheath, Southall Green, Crouch End – jeden Tag ganze Tote gefunden. Was ist normal? Was nicht? Ich habe keinen klaren Blick darauf.
Der Verkehr kommt ganz zum Erliegen. Ein Lkw mit einem Container, der von der Walworth Road auf die Kreuzung setzt, blockiert die Straße in sämtliche Richtungen. Hupen. Auspuffwolken steigen gen Himmel.
»Da sitzen doch nur Idioten am Steuer, bei diesen Container-Lkws«, sagt Steve. »Kein Respekt. Die sind alle gleich. Exhäftlinge, jede Wette. Wie die in meiner Straße über die Schwellen brettern, das klingt jedes Mal, als würde eine Bombe hochgehen. Die machen das bestimmt mit Absicht. Die sollten lernen, ihre Wut zu zügeln«, sagt er und fährt, indem er jedes Mitgefühl fahren lässt, fort: »Gehören alle aufgeknüpft.«
Der Stau löst sich auf. Ungehindert gleiten wir die Kennington Park Road hinunter, der Straßenbelag glatt unter den Rädern, und Steve, der das Fenster runtergekurbelt hat, um einen zornigen Ellbogen rauszustrecken, spricht jetzt mit dem Wind, der an seinen Ohren vorbeipfeift, am U-Bahnhof Oval Tube und an der St. Mark’s Church vorbei, und seine Worte verwirbelt. Ich habe nicht viel Zeit. Am Clapham Common wird er die Scheibe schließen, bis dahin hat er sich beruhigt. Ich muss ihn nach seiner Frau fragen – sie hatte heute ihren Termin beim Frauenarzt – und mich danach erkundigen, ob seine Tochter Sammy den Vorstellungstermin bekommen hat. Ich mach’s gleich, wenn das Fenster zu ist. Doch jetzt ist ein guter Moment, um Clara anzurufen, jetzt ist sie im Lehrerzimmer; ruhiger wird’s bei ihr nicht.
»Hallo, Gaby Mortimer«, sagt Clara, die meinen Namen vom Display ihres Nokia-Handys abliest, wie immer.
Im Hintergrund höre ich Lärm, wie ein langsamer Zug auf einem Gleis oder eine Kantinenmitarbeiterin, die Tabletts abräumt.
»Bist du da?«, fragt sie.
Ich räuspere mich und sage: »Hallo, Clara Macdonald.«
»Gott«, meint sie. »Freitag. Konnte, was mich angeht, nicht schnell genug kommen. Ich will nur noch nach Hause, mir ein heißes Bad einlassen, nach den Kindern schauen – Nick kocht – und vor Mad Men die Füße hochlegen. Ich müsste einen ganzen Berg Stunden vorbereiten, aber ich werde mir keine Schuldgefühle machen, denn die Liste der aufgenommenen Folgen ist so lang, dass ich sie abarbeiten muss, sonst fängt sie noch an, sich selbst zu löschen. Oder ist das nur ein Mythos? Egal, wenn ich ein bisschen Fernsehen gucke, dann ist das, als würde ich aufräumen.«
Allein ihre Stimme zu hören muntert mich auf. Wir sind seit der Schule befreundet, und für mich verkörpert Clara Macdonald den perfekten
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