Ich bin unschuldig
Menschen.
»Was gibt’s?«, fährt sie fort, als sie mein Schweigen bemerkt. »Wer hat dich geärgert? Philip? Ist er immer noch ein Idiot? Oder ist es der gut aussehende Typ auf der Arbeit?«
»Beide«, sage ich halb lachend. »Der Idiot ist ein Idiot, und der Arsch ist ein Arsch, aber …«
Ich habe überlegt, wie ich es sagen soll, in welche Reihenfolge ich die Worte bringen soll, ob ich meinen »erstklassigen Klatsch« fröhlich mit »Du wirst nicht glauben, was mir heute passiert ist« einleiten oder ob ich ernst sein soll: »Hör mal, es ist sicher bald in den Nachrichten, und ich wollte, dass du es von mir erfährst.« Ich weiß es immer noch nicht. Beides kommt mir irgendwie nicht richtig vor. Das Erste ist zu aufdringlich und gefühllos. Das Zweite, also, dieser Tonfall, nicht wahr, der sich einschleicht, wenn Menschen einem schreckliche Dinge berichten? Ein bisschen das, was meine Lieblingstante »kirchlich« genannt hätte, ein bisschen genuschelt und selbstgerecht. Ein absoluter Killer. Und ich weiß auch, dass Clara tränenselig mitfühlend auf mein traumatisches Erlebnis reagieren wird, und das habe ich nicht verdient. Es ist nicht fair. Kein bisschen.
Ich stelle mir vor, wie Clara im Lehrerzimmer steht, ihre Kolleginnen und Kollegen um sie herum, eine Büchertasche von Daunt Books über der Schulter, ihre Oyster-Card für die U-Bahn – rasch hinfassen, um sich zu vergewissern – sicher in der Gesäßtasche. Sie hat vielleicht schon den Mantel an – der Tweedmantel von Primark –, den gestreiften Schal um den Hals geschlungen. Ich stelle mir vor, dass jeden Moment die Tür aufgeht, ein Stück durch den überfüllten Flur, ein netter Kollege, der ihr anbietet, sie bis zur U-Bahn-Haltestelle mitzunehmen.
Steve hat das Fenster hochgekurbelt. Ich überlege es mir anders. Ich rede nachher mit ihr, wenn sie nicht in Eile ist. Wahrscheinlich reagiere ich sowieso übertrieben. So fröhlich wie möglich sage ich: »Wollte nur mal Hallo sagen vor dem Wochenende.«
Sie klingt vergnügt, als hätte sie keinerlei Sorgen. »Bevor die Hölle ausbricht«, sagt sie.
Marta ist in der Küche, sie isst nicht, sondern sitzt gleichmütig am Tisch und blättert in der Grazia . Sie scheint nie was zu essen. Letzten Sommer ging alles so schnell – Robin, unser altes Kindermädchen, war schwanger, und meine Mutter lag im Sterben. Ich war nicht so sorgfältig wie sonst. Vielleicht habe ich auch nicht die richtigen Fragen gestellt. Das Kindermädchen war quasi ein Panikkauf. Jetzt bereitet sie mir Sorgen. Ich mache ihr keine Vorwürfe, dass sie nicht isst, was ich koche – ich bin nicht gerade Jamie Oliver. Aber ich frage mich, wann sie isst und was und ob es irgendwie meine Verantwortung ist. Immerhin ist sie erst vierundzwanzig. Vielleicht hat sie Heimweh oder hat irgendeine Essstörung, über die ich Bescheid wissen sollte. Ich stelle mir vor, wie sie sich heimlich mit Twix und Monster Munch und Kartoffelchips vollstopft.
Millie ist im Turnklub, eine andere Mutter bringt sie nachher mit nach Hause. Marta hat die Wäsche fertig gemacht. Rechteckige Stapel gefalteter Pullover und T-Shirts – darunter auch meine Laufsachen vom Morgen, gewaschen und gebügelt – warten darauf, verteilt zu werden. Die Küchenarbeitsplatten aus hellem Granit sind poliert und aufgeräumt, der Boden glänzt. Öffnet man eine der schimmernden Schranktüren, sind dahinter die Müslischachteln und Marmeladengläser ordentlich aufgereiht. Das ist auch so etwas: ihre Reinlichkeit. Als sie zu uns kam, war das Einzige, worum sie bat, besondere Putzhandschuhe aus Latex, wie eine zweite Haut. Ich weiß, dass ich dankbar sein sollte. Philip ist in seinem Element, endlich eine Umgebung, die seinem Hirn entspricht. Doch ich fühle mich unbehaglich. Ich wünschte, sie würde überhaupt nicht sauber machen oder aufräumen. Robin, die aus Neuseeland stammte und sieben Jahre bei uns war, bis sie schwanger wurde und letzten Sommer ihren Bauern aus East Anglia geheiratet hat, war unglaublich unordentlich, was mich überhaupt nicht gestört hat. Sie gehörte zur Familie. Wir – also sie und ich – haben zusammen die Ärmel hochgekrempelt. Marta ist anders. Marta fühlt sich wie eine Hausangestellte, und ich weiß, dass das ein Luxusproblem ist, und ich weiß auch, dass ich mich einkriegen sollte, aber mir wäre es lieber, sie wäre eher wie eine Freundin.
Leise mache ich Tee – Zitrone und Ingwer, gut für die Nerven – und setze mich auf die
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