Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
setzten uns auf die Bank und schauten eine ganze Weile schweigend zu, wie Toby mit ein paar Jungs Fußball spielte. Ich war glücklich über die Verbindung mit meiner unbekannten Vergangenheit, trotzdem war da ein Unbehagen zwischen uns, das ich nicht abschütteln konnte. Ein Satz kreiste mir im Kopf.
Es könnte was mit Claire zu tun haben
.
»Wie geht es dir?«, sagte ich schließlich, und sie lachte.
»Ich fühl mich beschissen«, sagte sie. Sie öffnete ihre Handtasche und holte ein Päckchen Tabak heraus. »Du hast noch immer nicht wieder angefangen, oder?«, fragte sie, während sie mir die Packung hinhielt, und ich schüttelte den Kopf, wieder in dem Bewusstsein, dass auch sie jemand ist, der viel mehr über mich weiß als ich selbst.
»Warum denn?«, sagte ich.
Sie holte Blättchen aus der Tabakpackung, deutete mit einem Kopfnicken auf ihren Sohn. »Ach, weißt du, Tobes hat ADHS . Er war die ganze Nacht wach, und demzufolge ich auch.«
» ADHS ?«, sagte ich.
Sie lächelte. »Sorry. Der Ausdruck ist wohl noch ziemlich neu. Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Wir müssen ihm Ritalin geben, was mir echt gegen den Strich geht. Aber anders geht’s nicht. Wir haben so gut wie alles probiert, und er ist absolut unerträglich, wenn er das Zeug nicht nimmt. Der reinste Horror.«
Ich sah zu ihm hinüber, wie er in der Ferne herumtobte. Noch so ein defektes, verkorkstes Gehirn in einem gesunden Körper.
»Aber ansonsten ist er gesund?«
»Ja«, sagte sie mit einem Seufzen. Sie balancierte das Zigarettenblättchen auf einem Knie und verteilte den Tabak darauf. »Er ist manchmal einfach bloß verdammt anstrengend. Als hätte die Trotzphase bei ihm kein Ende.«
Ich lächelte. Ich wusste, was sie meinte, aber nur theoretisch. Ich hatte keine Vergleichsmöglichkeit, keine Erinnerung daran, wie Adam gewesen sein mochte, in Tobys Alter oder jünger.
»Toby ist noch ziemlich klein, nicht?«, sagte ich.
Sie lachte. »Du meinst, ich bin ziemlich alt!« Sie leckte die Gummierung des Blättchens an. »Ja. Ich hab ihn spät bekommen. Ich war mir ganz sicher, dass nichts passieren würde, deshalb haben wir nicht besonders aufgepasst …«
»Oh«, sagte ich. »Du meinst –?«
Sie lachte. »Ich will nicht behaupten, dass er ein Unfall war, aber sagen wir, er war ein kleiner Schock.« Sie klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen. »Kannst du dich an Adam erinnern?«
Ich sah sie an. Sie hatte den Kopf von mir weggedreht, schirmte ihr Feuerzeug gegen den Wind ab, so dass ich weder ihren Gesichtsausdruck sehen noch einschätzen konnte, ob das ein Ausweichmanöver war.
»Nein«, sagte ich. »Vor ein paar Wochen hab ich mich wieder an meinen Sohn erinnert, und seitdem ich das aufgeschrieben habe, kommt es mir so vor, als würde ich das Wissen mit mir herumtragen wie einen schweren Stein in der Brust. Aber nein. Ich kann mich an gar nichts von ihm erinnern.«
Sie blies eine Wolke bläulichen Rauch in den Himmel. »So ein Jammer«, sagte sie. »Das tut mir echt leid. Aber Ben zeigt dir doch wohl Fotos? Hilft dir das nicht?«
Ich überlegte, wie viel ich ihr erzählen sollte. Sie hatten anscheinend Kontakt gehabt, waren einmal befreundet gewesen. Ich musste vorsichtig sein, aber dennoch spürte ich das wachsende Bedürfnis, die Wahrheit nicht nur zu sagen, sondern sie auch zu hören.
»Er zeigt mir Fotos, ja. Aber er hat keine im Haus aufgehängt oder so. Er sagt, das wühlt mich zu sehr auf. Er hat sie versteckt.« Ich hätte fast gesagt
weggeschlossen
.
Sie wirkte erstaunt. »Versteckt? Im Ernst?«
»Ja«, sagte ich. »Er meint, es könnte mich zu sehr aufwühlen, falls mir zufällig eins von ihm in die Hände fallen würde.«
Claire nickte. »Weil du ihn vielleicht nicht erkennst? Nicht weißt, wer er ist?«
»Vermutlich.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte sie. Sie zögerte. »Jetzt, wo er nicht mehr da ist.«
Nicht mehr da
, dachte ich. Sie sagte das so, als wäre er nur mal für ein paar Stunden weggegangen, hätte seine Freundin ins Kino eingeladen oder wollte sich neue Schuhe kaufen. Aber ich verstand das. Verstand die stillschweigende Übereinkunft, dass wir nicht über Adams Tod reden würden. Noch nicht. Verstand, dass auch Claire mich schützen will.
Ich sagte nichts. Stattdessen versuchte ich, mir vorzustellen, wie es gewesen sein musste, mein Kind jeden Tag zu sehen, damals, als die Worte
jeden Tag
noch eine Bedeutung hatten, bevor jeder Tag von dem davor abgetrennt wurde.
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