Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Träne weg. »Ich hab nur getan, was die gesagt haben. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Ich wünschte, ich hätte um dich gekämpft. Ich war schwach und dumm.« Seine Stimme wurde leiser, flüsternd. »Ich habe dich nicht mehr besucht, ja«, sagte er, »aber um deinetwillen. Obwohl es mich fast umgebracht hat. Ich hab es für dich getan, Christine. Das musst du mir glauben. Für dich und unseren Sohn. Aber ich habe mich nicht von dir scheiden lassen. Nicht richtig. Nicht hier drin.« Er beugte sich vor und nahm meine Hand, drückte sie an sein Hemd. »Hier drin waren wir immer verheiratet, immer zusammen.« Ich spürte warme Baumwolle, klamm vor Schweiß. Das rasche Schlagen seines Herzens. Liebe.
Ich bin so dumm gewesen, dachte ich. Ich habe mir ernsthaft eingeredet, dass er das alles getan hat, um mir weh zu tun, wo er es doch in Wahrheit aus Liebe getan hat, wie er sagt. Ich sollte ihn nicht verurteilen. Ich sollte stattdessen versuchen, ihn zu verstehen.
»Ich verzeihe dir«, sagte ich.
Donnerstag, 22. November
Als ich heute Morgen wach wurde und die Augen aufschlug, sah ich einen Mann auf einem Stuhl in dem Zimmer sitzen, in dem ich war. Er saß völlig reglos da. Beobachtete mich. Wartete.
Ich geriet nicht in Panik. Ich wusste nicht, wer er war, aber ich geriet nicht in Panik. Ein Teil von mir wusste, dass alles in Ordnung war. Dass es sein gutes Recht war, da zu sein.
»Wer bist du?«, fragte ich. »Wie bin ich hierhergekommen?« Er erklärte es mir. Ich verspürte weder Entsetzen noch Skepsis. Ich verstand. Ich ging ins Bad und näherte mich meinem Spiegelbild wie einer längst vergessenen Angehörigen oder dem Geist meiner Mutter. Vorsichtig. Neugierig. Ich zog mich an, gewöhnte mich an die neuen Dimensionen und unerwarteten Verhaltensweisen meines Körpers und frühstückte dann in dem vagen Bewusstsein, dass an dem Tisch einmal drei Plätze besetzt gewesen sein könnten. Ich gab meinem Mann zum Abschied einen Kuss, was mir nicht falsch vorkam, öffnete dann den Schuhkarton im Kleiderschrank und fand dieses Tagebuch. Ich wusste auf Anhieb, was das war. Ich hatte danach gesucht.
Die Wahrheit über meine Situation liegt nun dichter unter der Oberfläche. Eines Tages werde ich womöglich aufwachen und sie bereits kennen. Dinge werden allmählich Sinn ergeben. Selbst dann, das weiß ich, werde ich niemals normal sein. Meine Vergangenheit ist unvollständig. Jahre sind verschwunden, spurlos. Manche Dinge über mich, über meine Geschichte, wird mir niemand erzählen können. Nicht Dr. Nash – der nur das von mir weiß, was ich ihm erzählt habe, was er in meinem Tagebuch gelesen hat und was in meiner Akte steht – und auch nicht Ben. Dinge, die passiert sind, ehe ich ihn kennenlernte. Dinge, die danach passiert sind, die ich ihm aber bewusst nicht erzählt habe. Geheimnisse.
Doch es gibt eine Person, die es wissen könnte. Eine Person, die mir den Rest der Wahrheit erzählen könnte. Mit wem ich mich in Brighton getroffen hatte. Den wahren Grund, warum meine beste Freundin aus meinem Leben verschwand.
Ich habe dieses Tagebuch gelesen. Ich weiß jetzt, dass ich mich morgen mit Claire treffe.
Freitag, 23. November
Ich schreibe das hier zu Hause. In dem Haus, das ich endlich als mein Zuhause begreife, als den Ort, wo ich hingehöre. Ich habe dieses Tagebuch durchgelesen, und ich habe Claire gesehen, und beides zusammen hat mir alles verraten, was ich wissen muss. Claire hat mir versprochen, dass sie jetzt wieder Teil meines Lebens ist und auch bleibt. Vor mir liegt ein zerfleddertes Kuvert mit meinem Namen vorn drauf. Ein Artefakt. Eines, das mich vervollständigt. Endlich ergibt meine Vergangenheit einen Sinn.
Bald wird mein Mann nach Hause kommen, und ich freue mich darauf, ihn zu sehen. Ich liebe ihn. Das weiß ich jetzt.
Ich werde diese Geschichte aufschreiben, und dann werden wir alles besser machen können, gemeinsam.
Es war ein strahlender Tag, als ich aus dem Bus stieg. Das Licht war von der blauen Kühle des Winters durchdrungen, der Boden hart gefroren. Claire hatte gesagt, sie würde oben auf der Anhöhe warten,
an der Haupttreppe des Palace
, und so faltete ich den Zettel zusammen, auf dem ich mir die Wegbeschreibung notiert hatte, stieg durch eine Parkanlage den sanften Hang hinauf. Ich brauchte länger, als ich gedacht hatte, und da mir meine körperlichen Grenzen noch ungewohnt waren, musste ich zwischendurch verschnaufen. Ich muss mal fit gewesen sein, dachte ich.
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