Ich - der Augenzeuge
zurück auf die rechte Seite. Nach dieser großen Anstrengung brach mir der Schweiß aus, es überkam mich eine große Müdigkeit, es war mir, als würde ich zu einem ganz kleinen Kind. Ich gab mir nach, ich schlummerte ein. Ich weiß nicht, wovon ich träumte. Plötzlich brach durch den wohltuenden, langsam sich abspielenden alten Traum ein neuer von furchtbarer Grauenhaftigkeit ein. Ich spürte, wie mich jemand mit einem scharfen, spitzigen Messer kitzelte, es durchzuckte mich wie ein brennendes Feuer, ich warf mich lachend vor unbegreiflichem Entsetzen empor, und das Messer ging mir durch und durch. Ich sehe es noch vor mir, es war wie ein Messer, das man zum Schinkenschneiden nimmt, doppelseitig geschliffen, dünn und sehr glatt und lang. Ich erwachte. Ich saß aufrecht, die Kissen lagen verstreut auf dem Teppich. An den Fenstern war es schon dämmerig, der Rest des Zimmers war dunkel. Meine Mutter war fort, ich schrie laut um Hilfe, und während ich noch schrie, merkte ich, wie mir etwas Bittersalziges die Kehle hochstieg. Ich klammerte mich an die Messingstäbe des Bettes und rüttelte daran. Meine Mutter stürzte mit einem brennenden Licht herein, halbentkleidet, bloßfüßig, die Haare aufgelöst, in langen Locken um die bloße Schulter. Sie umarmte mich mit ihren noch vom Waschen nassen Armen und zog das Nachthemd an ihren Hals in die Höhe. Meine Augenlider lagen an ihrem lauwarmen glatten Hals, und ich fühlte bei ihr die Adern pochen. Plötzlich drang das Bittere, Salzige durch die Lippen, und ich konnte nicht widerstehen, und an den gestickten Säumen ihres Nachthemdes blieb das Entsetzliche haften, schaumiges hellrotes Blut. Seltsamerweise war mir auch jetzt der Gedanke an den Tod fern. Ihr nicht. Sie machte sich, sobald sie die Blutflecken wahrgenommen hatte, sanft, aber energisch, von mir los, lief zu meinem Vater und hieß ihn, sofort den Geistlichen mit den Sakramenten und nachher den Arzt holen. Ich hörte, wie er aus dem krachenden Bette aufstand, wie er mit den Kleidern raschelte, mit den Schuhen knarrte. Das Blut kam mir alle Augenblicke in den Mund. Meine Mutter war wieder bei mir. Als gläubiger Katholikin war ihr mein ewiges Seelenheil wichtiger als mein Leben. Was konnte sie Besseres für mich tun, als mich in ihren Armen halten, beten und Gelübde tun? Sie verlangte nicht von mir, daß ich in der Stunde des Todes hörbar mitbete. Im Gegenteil, sie sagte, ich solle ruhig bleiben, sie drückte mich mit sanfter Gewalt in eine liegende Stellung zurück, baute die Kissen in meinem Rücken auf, ohne ihr Gebet zu unterbrechen, holte einige ihrer kleinen nach Vanille duftenden Taschentücher, tupfte mir den Schweiß von der Stirn, das Blut vom Mund, die Tränen von den Augen. Sie tat mit leiser Stimme das Gelübde, zur Hl. Mutter Gottes von Altötting zu pilgern, wenn es aufhören wolle, zu bluten und mich zu peinigen.
Es wäre mir wohler gewesen, wäre sie ruhig gewesen und hätte sie mich wieder aufsetzen und mich fest an den Stäben des Bettes anhalten lassen. Denn jetzt kam etwas Neues über mich: vielleicht nenne ich es am besten das Zermalmende . Es hatte eigentlich mit dem früheren Schmerz nichts zu tun, es ähnelte am ehesten dem Augenblick, als der Huf des Pferdes, von dem Schulranzen niedergleitend, das Schullineal unter Krachen zerbrechend, mir die rechte Seite zerschlagen hatte, also dem ersten Augenblick.
Vielleicht hat dies eine viertel oder halbe Stunde gedauert, ich konnte es nicht ermessen. Ohne daß ich bemerkt hatte, daß ich fortgewesen, war ich wieder bei mir, als der Arzt eintrat. Mein Vater führte mit meiner Mutter ein hastiges Gespräch. Er, der viel weniger fromm und katholisch war als meine Mutter, war noch nicht beim Geistlichen gewesen, er wollte zuerst den Bescheid und die Hilfeleistung des Arztes abwarten. Dieser hörte sich mein Stöhnen nicht lange an. Er legte mir seinen Zeigefinger, der nach Mandelseife roch, quer über meine Lippen, wie um mich zum Schweigen zu mahnen, jetzt holte er aus den Schößen seines speckigen Salonrockes ein mit violettem Samt gefüttertes Futteral mit einer kleinen Nickelspritze und einem Fläschchen mit Äther, dessen Geruch mich zu neuem furchtbarem Husten reizte, und aus einer anderen Tasche ein anderes Fläschchen, auf dem das Wort Morphium und ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Schienbeinen sich befanden. Mich überkam es aber angesichts dieser Todesinsignien eher wie ein Trost. Mir war alles gleich, wenn es nur hinter mir lag.
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