Ich - der Augenzeuge
Hand auf den Schulranzen, verlegen nahm ihn ein Kürassier mir unter dem Kopf fort, blätterte ein Buch auf und las silbenweise wie ein Schulkind meinen Namen und meine Adresse vor. Plötzlich standen sie alle stramm, der Arzt trat ein und ließ sie rühren. Die Gesichter der Soldaten, die wie in der Kirche feierlich erstarrt waren, lösten sich. Sie hoben mich jetzt auf. Ich stöhnte, es wurde mir schwarz vor den Augen. Aber ich wurde nicht wieder ohnmächtig, wie ich es erhofft hatte.
Der Militärarzt muß meine Verletzung als nicht lebensgefährlich betrachtet haben, sonst hätte er mich bei sich in seinem kleinen Lazarett behalten, statt mich in einem kleinen Regimentswagen unter Obhut eines schnauzbärtigen Unteroffiziers heimbringen zu lassen.
Während er mich befühlt und abgehorcht hatte, hatte mich plötzlich eine Art Vernichtungsgefühl befallen. Als ein ganz junger Mensch begriff ich den Tod sowenig, daß ich an alles eher dachte, als daß es meine letzte Minute sein könnte. Vielleicht war dazu der Schmerz zu beklemmend, zu zerreißend, zu erstickend. Bei jedem Atemzuge brach er wie ein Blitz meine rechte Seite durch. Versuchte ich den Atem anzuhalten, wurde es gelinder, aber wenn ich, um dem Ersticken zu entgehen, die Lungen weit mit Luft füllen mußte, war der frische, gleichsam selbstverschuldete Schmerz noch unerträglicher. Auch das Stöhnen und Keuchen verschärfte ihn, so zwang ich mich zu einem verbissenen Schweigen und erntete den achtungsvollen Blick des Arztes, der mir etwas von einem ›jungen Spartaner‹ zumurmelte.
Vielleicht wäre die Qual während der Heimfahrt in seiner Gesellschaft leichter zu ertragen gewesen, da er doch als Arzt Anteil an mir genommen und als Mann mich durch seine Achtung für die Selbstbeherrschung belohnt hatte. Dem Unteroffizier lag nur daran, mich möglichst schnell daheim abzuliefern. Ich faßte, als der Wagen gar zu schnell über die Kopfsteine unseres Straßenpflasters rollte, nach seiner Hand, aber er muß mich wohl mißverstanden haben, denn er eiferte den peitschenknallenden Kürassier auf dem Bocke zu noch größerer Eile an, vielleicht auch aus Angst, ich könne im Wagen sterben, und das Regiment könne Unannehmlichkeiten durch diesen Unglücksfall bekommen.
In mir stieg eine furchtbare Wut auf. Ich dachte daran, wie ich durch Gutmütigkeit in diese furchtbare Lage gekommen war, ich schäumte vor Zorn – im wahren Sinne des Wortes – bei dem Gedanken an das ›undankbare Roß‹, das meine Freundlichkeit mit einem plumpen Tritt belohnt hatte. Ich lag auf der linken Seite, weil mir so das Atmen leichter wurde, gerade auf dieser Seite stak aber mein Taschentuch im Rock, und als ich mich etwas aufrichtete, um es hervorzuholen und den Speichel vom Mund abzuwischen, kam von neuem das Vernichtungsgefühl, ein würgender schauerlicher Ekel, über mich, und ich versank wieder ins Dunkel.
Als es klarer wurde (ich dachte plötzlich an die Bäume der ›Au‹, die mit der aufgehenden Sonne klarer geworden waren), sah ich, daß der Wagen zwar in unserer Straße war, daß er aber über unser Haus hinausgefahren war. Mit welcher Mühe überzeugte ich den stupiden Soldaten, daß er sich in der Hausnummer geirrt habe und daß ich besser wissen müsse, wo ich wohnte. Jedes Wort war ein Stich, und ich brauchte viele. Endlich hielten wir vor dem Hause. Er nahm mich auf den Arm, murrte über mein Gewicht und schleppte mich so ungeschickt die Treppen hinauf, daß meine Füße nachschleiften. Erst als wir vor dem Eingang standen, kam mir in den Sinn, wie sehr meine Mutter erschrecken würde.
Ich hatte also meinen klaren Sinn nicht verloren, ich überlegte scharf, wie ich vorhin, in dem Untersuchungszimmer, alles scharf gesehen und belauscht hatte.
Nun war meine Mutter sehr zart. Ich hoffte, nicht sie, sondern die Magd oder mein Vater würde öffnen. Aber sie war es. Als sie mich erblickte, schrie sie leise auf und sank zusammen, mit dem Kopf voran, mitten durch die Tür, so daß ihr Haupt mit den schönen, dichten, schwarzen Haaren auf den Fußabstreifer mit der Aufschrift Willkommen niederfiel. Der blöde Kürassier mit mir auf dem Arm hätte sich nicht zu helfen gewußt. Zum Glück war mein Vater da. Er begriff sofort die Lage. Er half meiner Mutter auf, führte sie in ihr Zimmer und sagte ihr, ich sei nicht in Gefahr. Sie antwortete ihm nicht. Mich ließ er in mein Zimmer tragen. Er war es, der mich vorsichtig auf mein Lager ausstreckte. Im Vorübergehen hatte er
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