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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Träne, jedes Greinen als große Schande gilt. Dieses Mittel besteht in Feigheit. Ich war etwas feig, das war der Grund, weshalb ich mich, sooft es nur ging, von den Spielen ausgeschlossen habe. Spielen und sich bekriegen ist bei Knaben fast das gleiche. Meine Kameraden sahen nur, daß ich sehr groß war für mein Alter, daß ich harte Muskeln und wenig Fett und starke knochige Hände, ›Pratzen‹, hatte. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß in einem so kraftvollen Körper eine so schmerzempfindliche Natur hauste. Und nicht allein meine eigenen Schmerzen, auch das, was anderen weh tat, was ich zum Unterschied von den Schmerzen Leiden nannte – mir war es nicht gegeben, es ruhig anzusehen, es ging mir nahe, die Tränen kamen mir ›grausam‹ hoch, und ich schämte mich.
    Vielleicht wäre alles anders gewesen, hätte ich Geschwister gehabt. Wir würden uns gegenseitig abgehärtet haben und wären lustig gewesen. Meine Mutter, so zart sie war, sprach zwar oft, unter Husten lachend und unter Lachen hustend, davon, daß sie mir nicht ein Geschwisterchen, sondern mit einem Schlag deren zwei oder drei, Zwillinge oder Drillinge, ›bescheren‹ würde, mein Vater mochte es nicht hören und fand es ›unbescheiden‹, daß sie klüger sein wollte als der liebe Gott, der es zum Glück für ihre zarte Gesundheit bei einem einzigen Kind belassen hatte. Nun war wieder meine Mutter böse, errötete mit zirkelförmigen Flecken auf den Wangen und hieß den Vater schweigen, da sich solche Reden nicht für meine Ohren eigneten. Als ich nun so lange ans Bett genagelt war, brach eine Regung in mir durch, die mir neu war und die mir eine Art Genugtuung oder einen Ersatz für die verlorenen Knabenfreuden gewährte, nämlich der Wille, über die Großen zu herrschen, meinen Willen bei den Übermächtigen durchzusetzen. Ich begann beim Arzt. Er tat mir wohl. Solange er neben mir saß, hob sich meine Brust leichter, meine Schmerzen waren geschwunden. Er untersuchte mich oft und eingehend, denn das Fieber, das zwar nicht hoch war, aber nicht weichen wollte, machte ihn besorgt. Er fand aber nichts Bedrohliches, und nach fünf oder zehn Minuten wollte er wieder gehen. Es gibt keine List, die ich nicht anwandte, um ihm entgegenzuarbeiten und ihn immer noch eine Minute länger zurückzuhalten. Ich brachte, als er meine ungeschickten Manöver durchschaute, zuerst meine Mutter, dann meinen Vater dazu, den Arzt zu längerem Bleiben zu bewegen. Man verdoppelte das Honorar, brachte das Gespräch auf irgend etwas Interessantes, und manchmal gelang es ihnen wirklich, den Judenkaiser dazu zu bringen, seinen in allen Farben schillernden schwarzen Filzhut noch einmal auf den messingenen Fenstergriff zu hängen, die Rockschöße seines speckigen Gehrockes auseinanderzubreiten und sich zu mir an das Bett zu setzen. Es mag sein, daß er dann wichtige andere Patienten warten ließ. Möglicherweise verursachte mir auch dies eine Genugtuung.
    Nachts schlief ich unruhig, oft schwitzte ich, und mein Vater, der mehr Vertrauen zum Arzt hatte als meine Mutter, die alles gern der Mutter Gottes überließ, die ihr immer bei ihrer ›schwachen Brust‹ geholfen hatte, drängte den Arzt zu energischeren Maßregeln.
    Dies kam dem Judenkaiser sehr gelegen. Eines Tages brachte er allerhand Geräte in einem abgeschabten Handköfferchen mit. Er entnahm ihm eine Spritze, die aber bedeutend größer war und bedrohlicher aussah als jene, mit welcher er die Wunderkur getan hatte. »Bist du auch ein tapferer kleiner Kerl?« fragte er mich, mir wie damals den Finger auf den Mund legend. Ich ahnte nichts Gutes. Ich dachte an den tapferen kleinen Spartaner des Arztes in der Kaserne.
    Übrigens ging von meinem Abenteuer eine ganz falsche Berichterstattung um. Ich hatte in der Tat den Pferden Brot geben wollen. Keineswegs hatte ich sie etwa durch Schläge mit dem dicken Lineal gereizt, wie der falsche Augenzeuge , jener Unteroffizier, es meinen Eltern berichtet hatte. Ich hatte es nicht aus Güte, nicht aus Mitleid mit den vollgefressenen, prallen, schwergliedrigen Pferden getan. Ich hatte nur meine Feigheit besiegen, meinen Mut auf die Probe stellen wollen, denn ich hatte, wie viele Stadtkinder, Angst vor Pferden – und besonders vor den Hufen und Zähnen dieser Tiere. Ich hatte die Probe bestanden, aber teuer bezahlt. Sollte es damit nicht genug gewesen sein?
    Jetzt bereute ich, daß ich den Arzt so oft aufgehalten hatte, daß ich, der kleine, hilflose, bettlägerige Junge,

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