Ich & Emma
durch die Bäume scheinen sehen. Ich verschnaufte, wischte mir den Schweiß von der Stirn und spürte das kalte Metall des Gewehrgriffs in meiner Hand.
Das Haus kam näher. Und näher. Am Fuße der Verandatreppe nahm ich das Gewehr in beide Hände, versteifte die Ellbogen so, wie Mr. Wilson es Emma beigebracht hatte. Ich zählte die Stufen, ich durfte ja nicht nach unten sehen. Ich versuchte, ganz langsam durch die Nase ein- und auszuatmen, wie man es vor einem Schuss tun soll. Aber ich glaube, das gelang mir nur kurz, dann atmete ich wieder durch den Mund.
Die Veranda. Das Gewehr nach unten haltend stieß ich mit einem Fuß die Gittertür auf.
Durch meinen Rücken abgebremst schloss sich die Tür ganz leise, ich bewegte mich weiter. Ich betrachtete das Haus, als sähe ich es zum ersten Mal. Daran kann ich mich erinnern. An den Tisch im Wohnzimmer. Den Sessel, in dem er gesessen hatte. Die umgeworfene Lampe. Mamas Stöhnen. Ich hielt das Gewehr ganz ruhig. Ich richtete es auf die Schwingtür, die zur Küche führt.
Wir erschießen Richard
, hat Emma gesagt.
“Ich muss wissen, wo meine kleine Schwester ist!” Ich kehre in die Gegenwart zurück. “Mama? Haben sie sie gefunden …?” Ich kann den Satz nicht zu Ende sprechen. Langsam. Atmen. Gut, jetzt weiter. “Haben sie ihre Leiche gefunden?”
Der Sheriff nimmt meine Hand. Lieber Gott. Sie haben sie gefunden.
“Schätzchen, bevor wir über Emma sprechen, müssen wir den Rest der Geschichte hören. Verstehst du? Du musst uns alles sagen. Dann können wir über Emma sprechen, ja? Ich weiß, ich weiß. Ganz ruhig. Atme. So ist es gut. Atme ganz langsam ein und aus. Kannst du jetzt weiter sprechen? Nur noch ein wenig. Du warst im Haus, hast auf die Küchentür gezielt. Und dann?”
Ich machte einen Schritt auf sie zu. Und dann noch einen.
Ich lauschte angestrengt und hörte Richards “Aaah”, das er immer ausstößt, wenn er einen größeren Schluck Bier als üblich getrunken hat. Und dann, wie die Flasche auf den Tisch geknallt wurde.
Ich glaube, ich wartete noch, bis ihm einfallen würde, dass dieser Schluck längst nicht genug war und er noch einen nehmen wollte.
Und da trat ich die Tür auf und offenbarte meine Absicht.
Ich werde dich töten, sagte das Gewehr zu ihm.
Ich kann noch immer sehen, wie er zu begreifen versuchte.
Die Erinnerung daran, wie der Schuss losging, wie aus der Überraschung auf seinem Gesicht Schmerz wurde, lässt mich auf dem Stuhl im Büro des Sheriffs erschauern.
“Du hast also Richard erschossen”, sagt er.
“Er hat Emma umgebracht.” Ich sehe ihn direkt an. Direkt in seine Augen. “Und er wollte meine Mama töten …”
Der Sheriff atmet durch, wirft Mama, die tief inhaliert, einen Blick zu.
“Haben Sie Emma schon gefunden?”
“Caroline”, sagt sie. Ihre Stimme klingt wie damals, als ich ganz klein war und sie mich abends ins Bett steckte. “Schlaf gut und träum süß.” Und im Türrahmen sah ich den Schatten von Daddy, der uns betrachtete.
“Caroline, sieh mich an, ich habe das alles so satt, verstehst du? Es hängt mir zum Hals raus. Das muss jetzt aufhören. Sofort.”
Ich starre auf ihren Mund, ihr in die Augen zu sehen bringe ich nicht fertig. “Emma”, flüstere ich.
“Davon spreche ich doch.” Sie holt tief Luft, blickt zum Sheriff, der ihr aufmunternd zunickt.
“Das habe ich gesehen.” Ich versuche nicht zu weinen, weil Mama das ja nicht mag. “Sie haben ihre Leiche gefunden. Wo ist sie?”
“Himmel noch mal, bei aller Liebe, würdest du bitte
aufhören? Es gibt keine Emma!
Verstehst du?
Es gibt keine Emma!”
Mama schreit, aber ich könnte wetten, dass selbst sie nicht vorhatte, dermaßen laut zu werden.
Wegen der Stille scheint sie das Gefühl zu haben, es noch einmal sagen zu müssen: “
Es … gibt … keine … Emma.”
Schweigen.
“Es hat nie eine Emma gegeben.” Mama war schon immer stärker als ich, und als sie mir die Hände von den Ohren wegreißt, stürmen die Worte in meinen Kopf, drängen in mein Gehirn. “Nein, nein – dreh dich nicht weg. Dreh dich nicht weg.
Emma hat es nie gegeben
, Mädchen. Verstehst du mich?”
“Ich hole ein Taschentuch”, sagt der Sheriff. “Versuchen Sie, sie zu beruhigen, ich bin gleich wieder da.”
“Und du hörst mir jetzt zu”, fährt Mama fort. “Emma hat nie existiert. Du hast kurz nachdem dein Daddy starb damit angefangen, von einer Schwester zu erzählen, und ich habe nichts gesagt. Aber ich wollte nie, dass du es so
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