Ich finde dich
Tag an sie denken, aber nie versuchen, sie zu erreichen, ich würde noch nicht einmal im Internet nach ihr suchen. Ich würde mein Versprechen halten.
Sechs Jahre lang.
ZWEI
S ECHS J AHRE SPÄTER
D ie größte Veränderung in meinem Leben begann zwischen 15:29 und 15:30 Uhr, auch wenn ich das damals natürlich noch nicht wissen konnte.
Mein Erstsemester-Seminar über die Hintergründe moralischen Denkens war gerade zu Ende. Ich verließ die Bard Hall. Der Tag war wie geschaffen dafür, ihn auf dem Campus zu verbringen. Die Sonne strahlte auf einen klaren Massachusetts-Nachmittag herab. Auf dem Quad , der großen, zentralen Rasenfläche des Colleges, fand ein Ultimate-Frisbee-Spiel statt. Am Rand lagen Studenten wie von einer riesigen Hand verstreut im Gras. Musik erklang. Es war, als wäre die Campus-Werbebroschüre zum Leben erwacht.
Ich liebe solche Tage, aber – wer tut das nicht?
»Professor Fisher?«
Ich drehte mich um. Sieben Studenten saßen in einem Halbkreis auf dem Rasen, in der Mitte die junge Frau, die mich angesprochen hatte.
»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«, fragte sie.
Ich winkte lächelnd ab. »Danke, aber meine Sprechstunde beginnt gleich.«
Ich ging weiter. Ich wäre sowieso nicht geblieben, obwohl ich mich an einem so wunderschönen Tag gern zu ihnen gesetzt hätte. Doch die Beziehung zwischen Professoren und Studenten ist eine komplexe, und, Entschuldigung, das mag jetzt etwas hart klingen, ich wollte einfach nicht so ein Professor sein, wenn Sie verstehen, was ich meine – so ein Professor, der etwas zu viel mit den Studenten abhängt, sich gelegentlich auf Verbindungspartys blicken lässt und womöglich bei der Parkplatz-Party nach einem Football-Spiel der College-Mannschaft noch eine Runde Bier ausgibt. Ein Professor sollte hilfsbereit und zugänglich sein, aber weder Kumpel noch Elternersatz.
Als ich ins Clark House kam, begrüßte Mrs Dinsmore mich mit altvertraut finsterer Miene. Mrs Dinsmore, ein klassischer alter Drache, war wahrscheinlich schon seit Hoovers Präsidentschaft Sekretärin des Fachbereichs Politikwissenschaft. Sie musste mindestens zweihundert sein, wirkte aber nur halb so alt, so ungeduldig und garstig, wie sie sich aufführte.
»Einen wunderschönen guten Tag, Zuckerschnittchen«, begrüßte ich sie. »Gibt’s was Neues?«
»Die Post liegt auf Ihrem Schreibtisch«, sagte Mrs Dinsmore. Auch ihre Stimme klang verdrießlich. »Außerdem steht die übliche Schlange von Studentinnen vor Ihrer Bürotür.«
»Okay, danke.«
»Sieht aus wie beim Vortanzen für die Rockettes.«
»Schon klar.«
»Ihr Vorgänger war nicht so zugänglich.«
»Ach, machen Sie mal halblang, Mrs Dinsmore. Als Student war ich auch dauernd bei ihm.«
»Ja, aber Ihre Shorts hatten zumindest eine angemessene Länge.«
»Wovon Sie damals ein wenig enttäuscht waren, oder?«
Mrs Dinsmore versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Gehen Sie mir einfach aus den Augen, ja?«
»Sie können es ruhig zugeben.«
»Soll ich Ihnen einen Tritt in den Hintern verpassen? Raus mit Ihnen.«
Ich warf ihr eine Kusshand zu und ging durch die Hintertür, um den Studenten, die sich für die Freitags-Sprechstunde angemeldet hatten, nicht in die Arme zu laufen. Ich habe jeden Freitag von 15 bis 17 Uhr eine »offene« Sprechstunde, Zeit, um über alle Themen zu reden, neun Minuten pro Student, keine thematischen Vorgaben, keine Anmeldeliste. Einfach reinschauen und hinten anstellen. Jeder hatte neun Minuten, um mit mir zu sprechen, und eine Minute, um zu gehen und den Nächsten reinzuschicken. Wenn jemand mehr Zeit brauchte, ich die Dissertation betreute oder sonst irgendetwas war, konnte man bei Mrs Dinsmore einen Termin für ein längeres Gespräch vereinbaren.
Um Punkt 15 Uhr ließ ich die erste Studentin herein. Sie wollte über die Theorien von Locke und Rousseau sprechen, über zwei Philosophen, die inzwischen bekannter durch ihre Reinkarnationen in der Fernsehserie Lost waren als für ihre Theorien. Die zweite Studentin hatte keinen echten Grund hier zu sein, außer um – ich sage es ganz direkt – zu schleimen. Ich war versucht, während des Gesprächs die Hand zu heben und zu sagen: »Backen Sie mir doch lieber ein paar Kekse«, andererseits hatte ich durchaus Verständnis für sie. Die dritte Studentin wollte um eine Note feilschen: Sie meinte, für ihre Zwei-plus-Hausarbeit hätte sie eine Eins minus bekommen müssen, obwohl ich ihr eigentlich eher eine glatte Zwei hätte geben
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