Ich finde dich
sollen.
So lief das. Manche Studenten kamen vorbei, um etwas zu lernen, manche, um mich zu beeindrucken, manche zum Feilschen, manche einfach nur zum Plaudern – alles bestens. Ich bilde mir kein Urteil über sie aufgrund dieser Besuche. Das wäre falsch. Ich behandele alle Studenten gleich, die durch diese Tür kommen, denn unser Job ist es zu lehren , und wenn es dabei mal nicht um Politikwissenschaft geht, dann geht es womöglich um so etwas wie kritisches Denken oder sogar – keuch! – um das Leben selbst. Wenn die Studenten innerlich bereits völlig gefestigt und selbstsicher zu uns kämen, was könnten wir ihnen dann noch beibringen?
»Es bleibt bei der Zwei plus«, sagte ich, als sie ihren Sermon beendet hatte. »Ich würde aber wetten, dass Sie die Note mit dem nächsten Essay verbessern können.«
Der Wecker summte. Wie gesagt, ich halte mich strikt an die Zeitvorgabe. Es war genau 15:29 Uhr. Daher wusste ich im Rückblick so genau, wann es begonnen hatte – zwischen 15:29 Uhr und 15:30 Uhr.
»Vielen Dank, Professor«, sagte sie und erhob sich, um zu gehen. Auch ich stand auf.
Seit ich vor vier Jahren zum Leiter des Fachbereichs berufen wurde, hat sich mein Büro kein bisschen verändert. Der Raum sieht noch genauso aus, wie ich ihn von meinem Vorgänger und Mentor Professor Malcolm Hume übernommen habe, der unter einer Regierung Außenminister, unter einer anderen Stabschef im Weißen Haus gewesen war. Er atmete immer noch diese wundervoll nostalgische Atmosphäre akademischer Unordnung aus antiken Globen, übergroßen Folianten, vergilbten Manuskripten, Postern, die sich von der Wand lösten, und edlen Bilderrahmen mit Porträts bärtiger Männer. Im Raum stand kein Schreibtisch, nur ein großer Eichentisch, der Platz für zwölf Personen bot – exakt die Anzahl, die an meinem Dissertationsseminar teilnahm.
Es herrschte ein totales Durcheinander. Ich hatte das Zimmer nicht neu eingerichtet, weniger weil ich meinen Mentor ehren wollte, wie die meisten Leute hier glaubten, sondern weil ich erstens zu faul war und wirklich Besseres zu tun hatte, zweitens, weil ich weder wirklich einen eigenen Stil hatte noch Familienfotos, die ich aufhängen wollte, und mir dieser »der Arbeitsplatz ist der Spiegel des Menschen«-Unsinn vollkommen egal war und – wäre er mir nicht egal gewesen – dieses Büro, so wie es war, mich tatsächlich genau widerspiegelte und ich drittens eine gewisse Unordnung dem individuellen Ausdruck eher für zuträglich erachtete. Sterilität und Ordnung hemmen die Spontaneität der Studenten. Das Durcheinander schien die Offenheit meiner Studenten zu fördern – in dieser wirren und chaotischen Umgebung, so dachten sie offenbar, würden meine albernen Darlegungen schon keinen allzu großen Schaden anrichten.
Der wichtigste Grund war jedoch der, dass ich faul war und Besseres zu tun hatte.
Wir beide standen also an dem großen Eichentisch und schüttelten uns die Hände. Sie hielt meine Hand eine Sekunde länger als notwendig, also zog ich sie absichtlich schnell zurück. Nein, so etwas passiert nicht täglich. Aber es kommt vor. Inzwischen bin ich fünfunddreißig, aber als ich anfing, als junger Professor in den Endzwanzigern, kam es häufiger vor. Erinnern Sie sich an die Szene in Jäger des verlorenen Schatzes , wo eine Studentin sich » LOVE YOU « auf die Augenlider geschrieben hatte? Etwas Ähnliches ist mir im ersten Semester auch passiert. Außer dass das erste Wort nicht LOVE gewesen war und das zweite nicht » YOU « sondern » ME «. Ich bilde mir nichts darauf ein. Wir Professoren haben hier extrem viel Macht. Männer, die dem verfallen oder glauben, solche Aufmerksamkeiten in irgendeiner Form verdient zu haben (das ist nicht sexistisch gemeint, aber es handelt sich fast ausschließlich um Männer), sind normalerweise erheblich unsicherer und bedürftiger als irgendwelche Studentinnen mit Vaterkomplex, die einem hier gelegentlich über den Weg laufen.
Als ich mich wieder hinsetzte und auf den nächsten Studenten wartete, warf ich einen kurzen Blick auf den Computer-Monitor auf der rechten Seite des Tischs. Der Browser zeigte die Homepage des Colleges. Sie war recht klassisch gestaltet. Die Diashow links zeigte Studenten aller Nationen, Religionen, Konfessionen und beiderlei Geschlechts beim fröhlichen gemeinsamen Lernen, bei Freizeitaktivitäten, mit Professoren und so weiter. Oben befanden sich das Logo des Colleges und die Gebäude mit dem größten
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