Ich folge deinem Schatten
junge Frau von zweiunddreißig Jahren in einem schwarzen Kostüm mit Pelzkragen und hochhackigen Stiefeln, im Gesicht eine dunkle Sonnenbrille, in der Hand eine Designer-Tasche. Das kastanienbraune Haar fiel ihr offen über die Schultern, als sie vom Bürgersteig trat, um ein Taxi zu rufen.
3
Beim Abendessen hatte Alvirah Willy von dem Mann erzählt, der Pater Aiden so seltsam angesehen hatte, als dieser den Versöhnungsraum verließ, und beim Frühstück kam sie erneut darauf zu sprechen. »Willy, ich habe letzte Nacht von diesem Kerl geträumt«, sagte sie. »Und das ist kein gutes Zeichen. Wenn ich von jemandem träume, hat das meistens nichts Gutes zu bedeuten.«
Sie saßen noch in ihren Morgenmänteln am runden Tisch im Essbereich ihrer Wohnung an der Central Park South. Draußen, wie sie Willy gegenüber bereits kundgetan hatte, herrschte typisches Märzwetter. Es war kalt und stürmisch. Der Wind zerrte an den Möbeln auf dem Balkon, und der Central Park, den sie auf der anderen Straßenseite sehen konnten, war so gut wie menschenleer.
Liebevoll sah Willy zu der Frau ihm gegenüber am Tisch, mit der er nunmehr seit fünfundvierzig Jahren verheiratet war. Willy, angeblich dem verstorbenen, legendären Sprecher des Repräsentantenhauses Tip O’Neill wie aus dem Gesicht geschnitten, war ein großer Mann mit vollem schlohweißem Haar und, wie Alvirah sagte, den blauesten Augen unter der Sonne.
In seinen liebenden Augen war Alvirah wunderschön. Er bemerkte nicht, dass sie sich trotz aller Bemühungen immer mit zehn bis fünfzehn Pfund zu viel herumschlug. Ebenso wenig bemerkte er, dass schon eine Woche nach dem Färben die Haare, die sie nun dank einer edlen Tönung dezent rostbraun trug, an den Wurzeln wieder grau wurden. Früher, in ihrer Wohnung in Queens, bevor sie in der Lotterie gewonnen hatten und sie sich die Haare über dem Waschbecken im Bad noch selbst gefärbt hatte, waren sie flammend orangerot gewesen.
»Liebes, das hört sich doch so an, als hätte dieser Typ allen Mut zusammennehmen müssen, um zur Beichte zu gehen, und als er dann sah, wie Pater Aiden ging, schien er plötzlich unschlüssig geworden zu sein.«
Alvirah schüttelte den Kopf. »Da steckte mehr dahinter.« Sie griff nach der Teekanne und schenkte sich eine zweite Tasse ein. Ihre Miene änderte sich. »Du weißt, dass der kleine Matthew heute Geburtstag hat. Er würde heute fünf Jahre alt werden.«
»Oder wird fünf Jahre alt«, verbesserte Willy sie. »Alvirah, ich verfüge auch über Intuition. Und die sagt mir, dass er noch am Leben ist.«
»Wir reden über Matthew, als würden wir ihn kennen«, seufzte Alvirah, während sie Süßstoff in ihre Tasse gab.
»Meinem Gefühl nach kennen wir ihn wirklich«, sagte Willy.
Sie schwiegen beide und dachten daran, wie vor knapp zwei Jahren, nachdem Alvirahs New York Globe-Kolumne über das vermisste Kind im Internet veröffentlicht wurde, Alexandra Moreland angerufen hatte. »Mrs. Meehan«, hatte sie gesagt, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar Ted und ich Ihnen für Ihren Artikel sind. Wenn er von jemandem entführt wurde, der sich verzweifelt nach einem Kind sehnt, dann haben Sie wunderbar zum Ausdruck gebracht, wie verzweifelt wir uns danach sehnen, ihn wieder zurückzuhaben. Und Ihr Vorschlag, ihn an einem sicheren Ort zurückzulassen, ohne von Überwachungskameras aufgenommen zu werden, ist möglicherweise der entscheidende Anstoß, den der Entführer benötigt.«
Alvirah hatte von ganzem Herzen mit ihr mitgelitten: »Die arme Frau ist ein Einzelkind, sie hat beide Eltern bei einem Autounfall verloren. Dann trennt sie sich von ihrem Ehemann, bevor sie überhaupt weiß, dass sie schwanger ist, und jetzt verschwindet auch noch ihr kleiner Sohn. Ich weiß, sie ist an einem Punkt, wo sie morgens nicht mehr aus dem Bett kommt. Ich habe ihr gesagt, wenn sie mit jemandem reden möchte, kann sie mich jederzeit anrufen. Aber ich weiß, sie wird es nicht tun.«
Doch kurz danach las Alvirah auf Seite sechs der Post, dass die vom Unglück verfolgte Zan Moreland die Arbeit in ihrem Innendesign-Büro, Moreland Interiors in der East Fifty-eighth Street, wieder aufgenommen hatte. Sofort verkündete Alvirah, dass ihre Wohnung unbedingt renoviert gehöre.
»Meiner Meinung nach sieht sie nicht so übel aus«, hatte Willy dazu nur bemerkt.
»Sie sieht nicht übel aus, Willy, aber wir haben sie vor sechs Jahren möbliert gekauft, und, um die Wahrheit zu sagen, manchmal komme ich mir in
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