Ich folge deinem Schatten
ihres stets wiederkehrenden Traums, in dem sie nach Matthew suchte. Diesmal hatte sie sich wieder im Central Park aufgehalten, hatte unermüdlich seinen Namen gerufen und ihn angefleht, er möge ihr antworten. Am liebsten hatte er immer Verstecken gespielt. In ihrem Traum hatte sie sich eingeredet, dass er gar nicht vermisst würde. Er würde sich bloß verstecken.
Aber er wurde vermisst.
Hätte ich an jenem Tag doch nur den Termin abgesagt, dachte Zan zum millionsten Mal. Tiffany Shields, die Babysitterin, hatte ausgesagt, den Buggy mit dem schlafenden Matthew so hingestellt zu haben, dass das Sonnenlicht nicht auf sein Gesicht fiel, dann hatte sie die Decke auf den Rasen gebreitet und war selbst eingeschlafen. Erst als sie aufwachte, hatte sie bemerkt, dass er nicht mehr im Buggy saß.
Eine ältere Zeugin hatte sich bei der Polizei gemeldet, nachdem sie die Schlagzeilen über das vermisste Kind gelesen hatte. Sie berichtete, sie und ihr Mann hätten im Park den Hund ausgeführt und dabei sei ihnen aufgefallen, dass der Buggy leer gewesen sei – und das eine halbe Stunde vor dem Zeitpunkt, an dem die Babysitterin laut eigener Aussage einen Blick auf den Buggy geworfen habe. »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte die Zeugin, die ihren Zorn kaum verbergen konnte. »Ich dachte mir, jemand, möglicherweise die Mutter, ist mit dem Kind zum Spielplatz gegangen. Mir ist noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass die junge Frau auf ein Kind aufpassen sollte. Sie hat ja wie eine Tote geschlafen.«
Und schließlich hatte Tiffany zugegeben, dass sie sich zudem nicht einmal die Mühe gemacht habe, Matthew festzuschnallen, da er tief und fest geschlafen habe, als sie die Wohnung verlassen hatten.
War er von allein herausgeklettert, hatte ihn jemand an der Hand genommen und war mit ihm weggegangen?, fragte sich Zan zum wiederholten Mal. Es gab Leute, die auf so etwas nur warteten. Bitte, Gott, lass nicht zu, dass so etwas geschehen ist.
Matthews Bild war in allen Zeitungen des Landes und im Internet veröffentlicht worden. Ich habe gebetet, jemand, der einsam war, habe ihn vielleicht nur mitgenommen und dann nicht den Mut gefunden, sich zu seiner Tat zu bekennen. Ich habe gehofft, der Entführer würde sich irgendwann stellen oder Matthew irgendwo absetzen, wo er gefunden werden konnte, dachte Zan. Aber auch nach fast zwei Jahren gibt es nicht den geringsten Hinweis auf meinen Sohn. Wahrscheinlich hat er mich mittlerweile längst vergessen.
Langsam setzte sie sich auf und strich sich die langen kastanienbraunen Haare aus dem Gesicht. Trotz ihrer regelmäßigen Fitnessübungen fühlte sie sich steif und verkrampft. Das komme von der Anspannung, hatte ihr der Arzt gesagt. Sie lebe damit Tag und Nacht. Sie schwang die Füße aus dem Bett, streckte sich und stand auf, ging zum Fenster und nahm den frühmorgendlichen Anblick der Freiheitsstatue und des New Yorker Hafens in sich auf.
Die Aussicht war der Grund gewesen, warum sie ein halbes Jahr nach Matthews Verschwinden diese Wohnung gemietet hatte. Sie musste weg aus dem Apartmentgebäude in der East Eighty-sixth Street, wo ihr das leere Zimmer mit seinem kleinen Bett und den Spielsachen Tag für Tag aufs Neue fast das Herz gebrochen hatte.
Zu diesem Zeitpunkt war ihr auch bewusst geworden, dass sie zumindest versuchen musste, so etwas wie Normalität in ihr Leben zu bringen. Daher hatte sie sich mit ganzer Kraft auf ihr kleines Innendesign-Büro gestürzt, das sie nach ihrer Trennung von Ted gegründet hatte. Sie waren nur so kurz verheiratet gewesen, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Trennung noch nicht einmal gewusst hatte, dass sie schwanger war.
Vor ihrer Ehe mit Ted Carpenter hatte sie als Assistentin beim berühmten Designer Bartley Longe gearbeitet. Schon damals hatte sie als aufstrebender Star in der Branche gegolten.
Ein Kritiker, der wusste, dass Longe ihr während eines ausgedehnten Urlaubs ein ganzes Projekt anvertraut hatte, war ausführlich auf ihre erstaunliche Fähigkeit eingegangen, Stoffe, Farben und Einrichtungsgegenstände so aufeinander abzustimmen, dass sie exakt den Geschmack und den Lebensstil des Hauseigentümers widerspiegelten.
Zan schloss das Fenster und eilte zum Schrank. Sie schlief gern im Kühlen, ihr langes T-Shirt aber schützte nicht vor dem Durchzug. Sie hatte sich absichtlich für heute einen engen Terminplan verordnet. So griff sie sich ihren alten Morgenmantel, den Ted so sehr gehasst und über den sie lachend gesagt hatte, in
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