Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
recht schmal und daher für die Fußgänger reserviert, die sich hier zu bestimmten Tageszeiten in dichten Strömen aneinander vorbeibewegen. Die junge Frau überragt in ihrer schlanken Größe die meisten Passanten. Sie hat blaue Augen und langes hellblondes Haar. Aufzufallen ist nicht immer angenehm, aber sie hat sich angewöhnt, die Blicke, die sie auf sich zieht, gar nicht weiter zu beachten und einfach ihren Weg zu gehen.
Heute ist sie mit einer großen Mappe unterwegs. Sie will dem Dirigenten Sergiu Celibidache, der im großen Sendesaal des Westdeutschen Rundfunks mit dem Orchester seine Spezialität, Musik von Ravel, einstudiert, ihre Bilder zeigen. Am Tag zuvor war sie schon bei den Proben, hatte noch im Überschwang des erinnerten Musikgenusses in ihrem Atelier ein Bild gemalt, eine ganz und gar kobaltblaue Arbeit mit wenigen winzigen gelben Farbtupfern. Das will sie Celibidache schenken und danach in ihre Atelierwohnung zurückkehren, die fünf Minuten entfernt in der wiederaufgebauten sogenannten Altstadt nahe zum Rhein liegt.
Sie geht also mit raschen, ausholenden Schritten am Lux vorbei in Richtung Wallrafplatz, hat den Kopf voll mit tausend Dingen. Da geschieht etwas ganz und gar Unerwartetes, das sie so zuvor noch nie erlebt hat: Ihr Blick streift einen unbekannten Mann, der ihr inmitten der Passanten entgegenkommt, und bleibt an ihm haften. Er scheint einige Jahre älter als sie, aber doch auch noch jung, und er macht auf sie den Eindruck eines selbstbewussten, energischen Menschen. Sehr eindrucksvoll sind seine großen dunklen Augen, und sein Blick trifft nun, gerade als sie aneinander vorbeigehen, den ihren. Ihr Atem stockt, sie verspürt eine Art Schwindelgefühl, glaubt sich einer Ohnmacht nahe und weiß nicht, was mit ihr geschieht. Sie kann sich gerade noch genügend zusammenreißen, um nicht zu stolpern.
Was ist das? Erst nach ein paar Schritten hält sie inne, dreht sich um und will noch einmal Ausschau halten nach dem Menschen, der sie in diesen merkwürdigen, ja unheimlichen Zustand versetzt hat. Und siehe da: Er ist auch stehen geblieben und hat sich halb umgedreht. Noch einmal sehen sie einander an, nur einen Augenblick lang. Überrascht, verunsichert, fragend, irgendetwas Unbestimmtes ahnend und erhoffend, als ob sie ein unglaubliches Wunder erwarteten. Zugleich beginnt sie schon wieder zu zweifeln, sich gegen diese unsinnige Erregung zu wehren, Befreiung davon zu suchen und sich schließlich loszureißen – alles in wenigen Sekunden.
Beide wenden sich wieder um und gehen in ihre jeweilige Richtung weiter. Die junge Frau braucht eine Weile, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Aber sie ist trotz einer gewissen Neigung zu Träumereien, Fantasien und gelegentlichen mystischen Anwandlungen im Grunde nüchtern und vernünftig. Achselzuckend legt sie also diese Begegnung mit einem Unbekannten und das, was sie bei ihr ausgelöst hat, in ihrem Gedächtnis unter »merkwürdige Erlebnisse« ab und kehrt zu ihrem Vorhaben zurück.
Celibidache ist gerührt von dem Geschenk. Die Pause ist kurz, viel Zeit hat er nicht für die junge Frau. Aber er besorgt ihr eine Ehrenkarte für das eigentlich längst ausverkaufte Konzert, die sie stolz nach Hause trägt.
* * *
Die junge Frau war ich, Mary Bauermeister, damals dreiundzwanzig Jahre alt. Ich war nach einer Vorfahrin benannt worden, die aus Schottland stammte. Mein Vater war Mediziner, wie es auch schon sein Vater gewesen war, und Anthropologe. Er lehrte als Professor an der Universität in Köln. Ich hatte einen älteren Bruder und drei jüngere Schwestern. Als ich fünfzehn Jahre alt war, hatten meine Eltern sich getrennt, und seitdem war die Familie auseinandergerissen. Meine Mutter, die aus Österreich stammte, zog mit meinen Schwestern in einen Münchner Vorort, ich selbst war mit dem Bruder beim Vater geblieben. Mit der neuen Stiefmutter und einer kleinen Halbschwester lebten wir in Bensberg, das auf der rechten Rheinseite nahe bei Köln liegt, dort, wo das Bergische Land mit seinen Hügeln, Tälern und Wäldern beginnt.
1954 hätte ich eigentlich das Abitur machen und danach, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre, Mathematik studieren sollen, weil ich dafür einige Begabung gezeigt hatte. Aber kurz vor dem Schulabschluss war ich ihm davongelaufen. Mein Ziel war es, Künstlerin zu werden. Bei Günther Ott, einem äußerst anregenden, für die Moderne aufgeschlossenen Kunstlehrer an meiner Mädchenoberschule, der später das Museumsreferat
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