Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Prolog
Der Urgrund von Karlheinz Stockhausens Musik ist Schmerz und das Heilmittel Liebe. Es war mir ein Anliegen, diese beiden Pole so aufs Papier zu bannen, dass sie nachempfunden werden können, miterlebt, miterlitten, miterlöst. Das Menschliche in ihm will ich beleuchten, und die Kräfte, die ihn immer wieder dazu bewegten, überhaupt Musik zu machen. Stockhausen war mir beim Schreiben dieses Buches sehr nahe. Manchmal dachte ich, er diktiere mir. Denn es kamen Gedanken und damit auch Gefühle in mir hoch, die ich zur Zeit des Erlebens noch nicht hatte. So als wolle er mir bedeuten: »Spür mal, wie sich das von meiner Seite aus anfühlt!«
In meinen Augen war er das größte Musikgenie des 20. Jahrhunderts. Wir verlebten die besten Jahre unser beider Leben miteinander. Warum sind wir nicht schon dieser Jahre wegen beisammengeblieben? Auf die Frage eines Journalisten, was ich denn für eine Funktion in Stockhausens Leben hätte, habe ich damals einmal geantwortet: »Wir leben seine Biografie.« Vermutlich habe ich ihn verlassen, um meine eigene Biografie zu leben.
Und doch weine ich heute im Alter Tränen um diese nicht bis zum Ende verwirklichte Liebe. »Die Liebe ist stärker als der Tod«, so singt die Sopranistin in Stockhausens Werk Momente . Es ist ein Zitat aus dem Hohenlied. Nun ist Stockhausen schon fast vier Jahre tot, und ich trage immer noch innerlich Trauer. Zum Schreiben dieses Buches habe ich sogar unseren Ehering wieder angelegt. Die Ringe wurden in San Francisco von einem Goldschmied mit der Silbenfolge Ka Ma ziseliert. Ka ist Karlheinz, Ma ist Mary. Kama – Maka, Figuren aus seinen Werken Momente und Hymnen . Beim Schreiben wurde mir wieder ganz bewusst, wie reich unser gemeinsames Leben gewesen ist.
Europa, Amerika, Asien, Afrika haben wir bereist. Ich hatte auf diesen Reisen Tage- und Skizzenbücher dabei, um das Erlebte festzuhalten, Ideen für Bildgestaltungen zu notieren. Wenn ich wieder irgendwo sesshaft war, ging es an die Verarbeitung dieser Reiseerkenntnisse, die ich dann ins Bildnerische übertrug. So kehrte ich nun an die Orte zurück und horchte in die Vergangenheit hinein. Was ist da noch an Geheimnis verborgen? An Orten verankert sich unser Schicksal, so als prägten wir Menschen der Erde unser Erleben ein. Mit aller Intensität verwunden wir sie, und diese Wunden fordern eine Heilung. Und ohne es planen zu können, bricht etwas aus den Tiefen unserer Erinnerung hervor und lässt uns neu empfinden. Anders handeln, zukünftiger. Wir besänftigen und mildern unsere damaligen Gefühle. Mit dem Wissen, dass alles und jedes wieder erlöst werden muss, befreit werden muss von den Überschattungen unserer Fehlentscheidungen, gehen wir nun etwas behutsamer den Rest unseres Lebens an. Mit Mokassins wie die Indianer, die der Erde beim Gehen nicht wehtun wollen, und nicht mehr mit klappernden Stöckelschuhen oder massiven Stiefeln. Deren Klang scheint uns zwar im Alltagslärm nicht zu stören, doch erst im leisen, stillen Kirchengewölbe merken wir, wie unpassend diese harten, lauten Schritte sich anhören.
1
Am Anfang war der Klang
Ein Nachmittag im Frühjahr 1957. Eine junge Frau geht die Kölner Hohe Straße hinunter, die zu den Hauptgeschäftsstraßen im Zentrum gehört. Schon zu Römerzeiten war sie eine der Schlagadern der alten Stadt gewesen. Nachdem im Zweiten Weltkrieg alles ringsum zerstört worden war, hatte man die Ladengeschäfte nach und nach zunächst behelfsmäßig wiederaufgebaut. Die junge Frau kann sich noch an die Schuttberge erinnern, über die nur ein schmaler Trampelpfad führte.
Inzwischen kann man überall das deutsche Wirtschaftswunder erkennen: glitzernde Schaufenster, Leuchtreklamen in allen Farben an den Fassaden, Bekleidungs-, Schuh-, Foto- und andere Geschäfte dicht gereiht. Da hinten ist das Café von Gigi Campi, Treffpunkt der Kölner Jazzfreunde, Literaten und Musiker. In der kommenden Woche erwartet man den Jazztrompeter Miles Davis in Köln, natürlich wird er dann auch bei Gigi Campi spielen.
Schräg gegenüber liegt das Lux, das beliebteste Filmkunsttheater der Stadt. Für Sonntag ist in der Matinee Buñuels Un chien andalou angekündigt, Ein andalusischer Hund . Da gilt es, früh um Karten anzustehen. Nur wenige Schritte weiter, wo die Straße sich zu einem kleinen Platz öffnet, geht es nach rechts auf den Dom und dahinter auf den Hauptbahnhof zu. Links liegt der Westdeutsche Rundfunk. Dort strebt die junge Frau hin.
Die Hohe Straße ist
Weitere Kostenlose Bücher