Ich kann jeder sagen
war und als Diamanthändler in Amsterdam ein Vermögen gemacht hatte. Meneer Attila war ein zierliches, kleines Männchen mit schwarzen Haaren, die wie Tuschestriche auf seinem Kopf aufgezeichnet schienen, und einem kleinen, dünnen, sorgsamst gepflegten Schnurrbart nach der Art von Errol Flynn. Er trug seidene Stecktücher in der Farbe seiner Krawatten, und er war wohl in den achtziger Jahren der letzte Mann in Amsterdam, der eine Taschenuhr verwendete. Er hatte ein großes und ein kleines Auge, das kam angeblich von der Lupe, die er zur Begutachtung von Diamanten unausgesetzt ins Auge geklemmt hatte. Irgendwann konnte er es nicht mehr ganz öffnen. Wann immer man Attila und Nelleke traf, saß dieser kleine zarte Mann neben seiner Frau, die gut zwei Kopf größer war, legte sein Pfötchen auf ihre Pranke, tätschelte sie ununterbrochen und sagte von Zeit zu Zeit Sätze wie: »Bist du Liebstes, was ich hab auf der Welt!« Nach zwei Jahren war »Liebstes« Witwe, und Opa veranlagte ihr geerbtes Vermögen. Seither lebt sie gut von ihren Rücklagen.
Als Oma am Ende bettlägrig war, hat Nelleke sie regelmäßig besucht, stundenlang mit ihr Gott weiß was geredet und ihr vorgelesen. Oma liebte die Bücher von Harry Mulisch – sie sagte gern: »Ich verstehe nur zwei Männer – nämlich Harry!«
Also Opa und Mulisch.
Opa hat nicht viel geredet, aber Harry Mulisch hat viel geschrieben, und Nelleke hat Oma sein Gesamtwerk vorgelesen. Sogar sein Buch über Wilhelm Reich. Bei der Stelle über Sexualität als Spender der Lebensenergie habe die bereits moribunde Oma, so Nelleke, müde lächelnd gesagt: »Dieser Reich mag ja was verstehen vom Leben. Aber nichts vom Überleben!«
»Das Buch!«, rief also Nelleke. »Ja, das Buch! Was war damit?«, riefen andere. »Wieso brachte der Schimpanse ein Buch?« Vater schaufelte sein geschnetzeltes Omelett, hob die linke Hand, bedeutete: Geduld! Er werde gleich fortsetzen.
»Der Reihe nach«, sagte er mit vollem Mund. »Also, was war unser Futter?«
Futter! Das kam ihm wohl kess vor. Ironisch. Aber es war lächerlich. Vor allem als Einleitung zu seinem blöden Wortspiel, das jetzt unvermeidlich folgte. »Kugel und Knedl« wird er gleich sagen, das sei ihr Essen beziehungsweise Futter gewesen. Dann wird er die erstaunten Reaktionen abwarten, und wenn es sie nicht gibt, wird Karin sie stellvertretend mimen: »Was? Kugel und Knedl? Jiddische Spezialitäten im Affenhaus?« Dann wird er erklären, was Kugel im Affenhaus war und – Vater schluckte, ließ die Gabel auf den Teller fallen, schob den Teller weg, rülpste. Karin lächelte entschuldigend. »Kugel!«, sagte er. »Im Grunde gab es jeden Tag Kugel! Und Knedl!«
Ich hatte jetzt Sehnsucht nach Mirjam, meiner Frau. Ich hätte so gern mit ihr Blicke getauscht. Stille Komplizenschaft ist vielleicht die wahre Liebe. Andererseits: Was machte Karin bei meinem Vater anderes?
Mirjam war schon in der Früh kotzübel gewesen. Wir hatten Kaffee getrunken, dann aß sie einen Hering. Ein Hering zum Frühstück? »Ich brauch das jetzt!«, hatte sie gesagt. Kurz darauf war sie im Bad verschwunden, und ich hörte, wie sie sich übergab, wie es sie reckte, wie sie spuckte.
Du kotzt zu früh, habe ich durch die Badezimmertür geschrien, du kannst doch nicht den Leichenschmaus rauskotzen, bevor er stattgefunden hat! He!
Das waren die beiden kleinen, freundlich überspielten Skandale beim Begräbnis gewesen: dass Nelleke gekommen und dass Mirjam nicht gekommen war.
»Kugel?«, »Knedl?« wurde gerufen – es hatte wieder funktioniert.
Nun hatte ich mir die Haut am Nagelbett des rechten Zeigefingers blutig gebissen, ich saugte daran, knabberte, als könnte ich jetzt die Wunde wegbeißen. Natürlich wurde es nur schlimmer. Ich hatte Blut an den Lippen.
»Ja, Kugel«, sagte mein Vater, »das hatten wir täglich. Im Grunde war es ein Eintopf. In der Küche gab es einen großen Kessel, in den alles hineinkam, was es an Essbarem gab, Gemüse, Fleisch, Kräuter und Pflanzen, zum Beispiel auch Brennesseln, Getreide, alles kam da hinein, was gerade da war, und wurde zusammen gekocht. Das wurde breiig, stockte, wurde eine dicke Masse, in der alles vermischt war. Das ließen sie abkühlen, und dann haben die Wärter mit den Händen einfach Kugeln daraus geformt und gepresst, so wie Knödel. Zur Futterzeit bekamen die Affen diese Kugeln, die konnten sie bequem halten, davon abbeißen. Das Futter durfte ja nicht flüssig sein – essen Affen vielleicht mit
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