Ich kann jeder sagen
Ende auch die Dachbalken. Als der Krieg vorbei war, konnten die Häuserskelette nur noch abgerissen werden, sie waren alle verrottet.
Ich nahm einen Stuhl und setzte mich ans Kopfende des Tisches neben meinen Vater. Er trank Genever, wollte immer wieder etwas sagen, einwerfen, seine Geschichte zurückholen, er öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder, er hatte keine Chance. Er sah aus wie ein Fisch im Aquarium, Mund auf und Mund zu. Ich legte meinen Arm um seine Schulter. Seine erstaunten kleinen roten Augen.
»Was war mit diesem Vogel?«
Er sah mich an.
»Dieser Lorie. Was war –«
»Er schrie. Schrie immer wieder!«
»Und?«
»Ein unglaublich schriller, spitzer Schrei. Dann geht er in ein Wimmern über.«
»Das meine ich nicht. Ich wollte wissen –«
»Nach der Befreiung ist Vater gleich zu den Vögeln gegangen. Er hatte mich an der Hand genommen, da standen wir. Purpurhaubenlorie! Das war er. Der immer so hysterisch geschrien hatte. Bunte Flügel, innen gelb, ein purpurroter Kopf, wie eine Haube, darum –«
»Ja, gut. Aber: Du hast die Geschichte schon so oft erzählt, aber nie, noch nie von diesem Papagei. Warum heute? Warum ist dir das heute eingefallen?«
Vater stützte sein Gesicht in die Hände. Er weinte. Fast. Er zuckte mit den Schultern. Weil er das Schluchzen zu unterdrücken versuchte.
»Warum?«
»Also, was war mit dem Buch? Das Buch!«, rief Nelleke.
Ich spürte, wie mein Mobiltelefon vibrierte, holte es heraus. Eine sms. Von Mirjam. »Komm nach Hause. BITTE!« Gleich darauf vibrierte es noch einmal. »Genug getrauert! Komm!«
»Das Buch«, sagte Vater. »Ja. Also. Die Vorgeschichte war, dass mein Vater – so hat er es mir später erzählt –, dass er zu Max, also zu dem Wärter gesagt hatte: Ich überlebe das nicht. Ich kann nicht mehr. Bring mir ein Buch mit. Irgendeines. Was du hast. Oder hole eins aus unserer Wohnung. Ein Buch. Ich bin doch ein Mensch. Ich will –«
Ich zog mir den Mantel an.
»Ich will etwas, was kein Affe kann. Lesen. Ein Buch. Bitte, Max!«
Ich schaute meinen Vater an. Er sah kurz fragend auf. Ich deutete, dass ich –
»Also hat Max –«
Ich ging. Lief die Govert Flinckstraat hinunter, Richtung Ruysdaelkade. Vor dem neuen Appartementhaus auf Nr. 80, in dem Opa gewohnt hatte, blieb ich kurz stehen. Da war Licht hinter seinen Fenstern. Ich schaute hinauf. Nein, das waren die Fenster der Nachbarwohnung. Und da sah ich, ich konnte es zunächst nicht glauben, aber es gab keinen Zweifel: Es war das Haus, in dem Opa gewohnt hatte, es war die Etage, in der er gewohnt hatte, es war seine unmittelbare Nachbarwohnung! – da sah ich hinter dem Fenster, von der Straße aus deutlich sichtbar, eine Voliere, einen großen Vogelkäfig, darin zwei Papageien. Mit purpurroten Hauben. Und dann hörte ich den Schrei. Nicht laut, durch das Fenster, herunter auf die Straße, aber ich konnte ihn hören. Vom Käfig an der Wand neben – Opas Schlafzimmer.
Ich lief zurück ins »Amsterdommertje«. Vater redete. Er hatte wieder alles unter Kontrolle. Er war jetzt bei den Brandbomben, die die Engländer über der Plantage Doklaan abwarfen, ganz nahe am Affenhaus. Da ist ein Rangierbahnhof gewesen – ich hätte mit meinem Vater im Chor miterzählen können. Ich hätte schreien können. Vielleicht habe ich geschrien. Ich weiß nicht mehr, wie ich es machte, jedenfalls stand ich dann mit Vater alleine auf der Straße vor dem Lokal. Meine Hände auf seinen Schultern.
»Du hast Opa gefunden. Wo war –«
»In seinem Appartement. Das weißt du doch. Er hat zwei Tage nicht abgehoben, wenn ich anrief. Also bin ich hin und –«
»Ja, aber wo in seinem Appartement? Und wie? Ich meine, irgendwo auf dem Fußboden, oder im Bett –«
Vater weinte. Endlich. Es dauerte lange, ich weiß nicht, wie lange, ewig, aber was ist nach einem Leben schon eine Ewigkeit? Es dauerte lange, bis er sagen konnte, bis ich verstand: Im Bett. Im Pelzmantel. Die Handflächen an die Ohren gedrückt.
Ein paar Tage später saß ich mit Mirjam im Sarphatipark.
»Ich rauche nicht mehr«, sagte sie.
»Ich werde auch aufhören!«
»Das schaffst du nie!«
»Hast du gewusst, dass auch Schimpansen rauchen? Das hat mein Vater erzählt. Die Schimpansen im Zoo haben geraucht. Und Bier getrunken. Das war der Spaß der Wärter. Sie haben die Affen in die Küche geholt und ihnen Bier und Zigaretten gegeben und –«
»Ja. Das hast du mir schon erzählt.«
Mirjam küsste mich. Und die Vögel im Park
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