Ich knall euch ab!
der ganze Schulklassen in den Bann ziehen kann und von Schülern immer wieder strategisch eingesetzt wird.
Hier liegt die nicht unerhebliche Mitverantwortung der Schule. Ein schlechter Leistungsdurchschnitt, das Wiederholen eines Jahrgangs, die Zurückstufung in eine andere Schule und das Verfehlen eines wichtigen Abschlusszeugnisses hängen eng mit körperlicher und psychischer Gewalt zusammen. Wem ständig von den Lehrerinnen und Lehrern deutlich gemacht wird, dass er ein leistungsmäßiger Versager ist, überträgt das auf seine Persönlichkeit. Das Scheitern an den schulischen Leistungsanforderungen schafft eine gefährliche Gemengelage, die sich dann weiter anreichert, wenn es zu Akzeptanzproblemen bei den Mitschülerinnen und Mitschülern kommt. Schnell können sich die so genannten Außenseiter zusammenschließen, wie es in »Ich knall euch ab!« anschaulich dargestellt wird. Sie, die eigentlich völlig vereinzelte und überforderte Schüler sind, entdecken ihre Gemeinsamkeit, die in der Ausgeschlossenheit und Diskriminierung durch Mitschüler und Lehrer gleichermaßen liegt.
Vorangegangen ist eine innere Distanzierung von den schulischen Anforderungen, die sich zum Beispiel im häufigen Schulschwänzen ausdrücken kann. Verbunden ist diese distanzierte Haltung der Schule gegenüber mit einem Gefühl der völligen Orientierungs- und Normenlosigkeit, auch deswegen, weil man sich selbst eigentlich schon aufgegeben hat. Hier entstehen die gefährlichsten Ausgangskonstellationen für Aggressivität und Gewalt, die man sich denken kann.
Robert Steinhäuser befand sich in genau einer solchen Ausgangskonstellation, da ihm der Weg zum Abitur verbaut wurde. Noch schlimmer: Er erfuhr keine dauerhafte und beständige, auf seine persönliche Situation eingehende Hilfe und Unterstützung, um seine Leistungsprobleme auszugleichen. Robert muss den Eindruck gehabt haben, sein ganzes weiteres Leben, seine bürgerliche Existenz in einer Wettbewerbsgesellschaft sei vollkommen zerstört.
»Ich knall euch ab!« greift auf viele fachliche Erkenntnisse zurück, die aus wissenschaftlichen Studien zur Gewalt an Schulen auch in Deutschland gewonnen wurden. Morton Rhue schildert die Ausgangssituation plastisch und anschaulich; dabei gründet er seinen Roman auf die spezifischen amerikanischen Verhältnisse an Schulen, in Gleichaltrigengruppen und Familien. Hier ergeben sich einige Unterschiede zur deutschen Situation. Meist ist der kollektive Druck zum Zusammenhalten und zur Befolgung von schulischen Regeln in den amerikanischen Schulen höher als wir das bei uns kennen, nicht zuletzt auch deswegen, weil Schulen bis weit in den Nachmittag hinein laufen. An den meisten amerikanischen Schulen ist hierdurch auch die Freizeitbeschäftigung, insbesondere im sportlichen Bereich, in die Schule hineingezogen.
Dadurch kann es, wie Morton Rhue zeigt, zu einer Überschneidung von zwei Benachteiligungslinien bei Schülerinnen und Schülern kommen, die Gift für die soziale Integration sind: Die Anerkennung der Lehrerinnen und Lehrer will nicht gelingen, aber auch die Anerkennung der Mitschülerinnen und Mitschüler nicht, weil sie ganz stark durch die vorherrschende Sportkultur mit ihren verengten Erfolgskriterien geprägt ist. Den beiden Schülern Gary und Brendan in »Ich knall euch ab!« werden in keinem Bereich des schulischen Alltags Anerkennung und Identifizierungsmöglichkeiten eingeräumt, im Gegenteil werden diese sogar systematisch abgeschnitten. Die Familien sind für sie zu schwach, um einen Gegenpol zu bilden. So geraten die beiden Schüler, die ansonsten eigentlich nichts gemeinsam haben, in die Solidarität von zwei Außenseitern, die sich in ihrem abgrundtiefen Entfremdungsgefühl gegenüber allen Menschen in der Schule zusammenfinden.
Morton Rhue hat seinen Roman auf eine Facette abgestellt, die für die amerikanische Lebenssituation besonders typisch ist: Die absolut leichte Verfügbarkeit von Schusswaffen in Familie und Nachbarschaft. Nur aus der amerikanischen Geschichte erklärbar, gehören Schusswaffen gewissermaßen zum individuellen Menschenrecht auf Selbstverteidigung eines jeden Amerikaners. Das ist in Deutschland nicht so. Der Fall des Schülers Robert aus Erfurt zeigt uns aber, wie leicht es auch für einen Jugendlichen in Deutschland ist, sich auf legalem Wege Schusswaffen zu besorgen. Deswegen sollten wir jetzt auch in Deutschland viel sorgfältiger die Diskussion der Bürgerbewegungen in den USA verfolgen, die
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