Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
Kapitel 1
Island, Gegenwart
Er hatte seine beste Freundin verloren.
Durch Thanjus schmutzige Hände rann dunkler Sand hinab auf den frostharten Boden und wurde vom Wind davongetragen. Der ehemalige Dynast richtete sich auf und betrachtete das Schlachtfeld um ihn herum, beziehungsweise das, was davon übrig war – schwarzer Rauch, schwarze Aura, die schwerfällig in die Nacht hinausglitt, sich von ihm entfernte.
Er hatte sie getötet. Und diese Genugtuung löschte für einen kurzen Moment das Feuer in seinem Inneren, bekämpfte die Schwärze und vertrieb den Geschmack der Fäulnis. Zweihundertdreizehn Taryk waren bislang durch die zwei Klingen seines aufgerüsteten Langstocks enthauptet worden und es würden nicht die letzten gewesen sein. Taryk, Seelenreißer, Mörder, die es nicht anders verdienten.
Und der Anlass hierzu war ein ganz einfacher.
Er hatte seine beste Freundin verloren.
Mit jeder Sekunde, die seit Diriris Tod verstrichen war, wurde ihm dies mehr und mehr bewusst.
Seine beste Freundin.
Der Krieg, der seit Jahrtausenden zwischen Akkadiern, wie er einer war, und Taryk ausgetragen wurde, hatte ein weiteres, besonders kostbares Opfer gefordert. Die Unsterbliche, mit der er früher sein Heim in Tibet geteilt hatte, war fort.
Ju, wie er von vielen genannt wurde, orientierte seinen durch Rache verklärten Blick auf den Nachthimmel und beobachtete die farbenfrohen Wellen, die das Schwarz des Alls durchbrachen. In Blau, Türkis und Grün waberte das Nordlicht über ihn hinweg. Und er würde bis zum Ende seines Lebens wahrscheinlich keinen anderen Himmel mehr sehen. Hier in Island sollte er sterben, zumindest vermutete Ju, dass sein Weg so enden würde.
Blau, Türkis und Grün. Immer wieder. Die bunte Schlange kroch zwischen Erde und Himmel hinweg und verhüllte, was er bei jedem Blick nach oben zu sehen erhoffte. Den einen Stern. Den einen ganz besonderen Stern. Diriri.
Sie war nicht da.
Der Akkadier senkte sein Haupt und schüttelte den Gedanken ab, schob zwei Kappen auf die Klingen des Gùn und verstaute ihn in der Halterung am Rücken. Seine Arme sanken hinab, die Hände ballten sich zu Fäusten und sein Körper wurde erneut von diesem fressenden Hass durchzogen. Der Geschmack von Verwesung kroch die Speiseröhre hinauf und entfaltete sich in seinem Mund.
Er erkannte ihn wieder. Nicht weil er ihn seit Wochen Tag für Tag schmeckte, sondern weil Ju diese unbeschreibliche Wut vor sehr langer Zeit zum ersten Mal gespürt hatte. Mit der Fäulnis auf seiner Zunge kamen auch schwach Erinnerungen zurück, Bilder, die er vergraben, vergessen, versteckt hatte. Wie eine Blase platzte die Schwärze in ihm auf und vertrieb die kurze Befriedigung, die Ju beim Töten der Seelenreißer erlebt hatte. Seit fünfundfünfzig Nächten das Gleiche. Er ließ seiner Wut freien Lauf, nur um kurz danach wieder von ihr erstickt zu werden.
Thanju würgte, als der Geschmack auf seiner Zunge überhandnahm. Er beugte sich nach vorn und stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab, hatte das Gefühl, sein Magen würde sich nach außen stülpen.
Doch nichts geschah.
Er spuckte auf den gefrorenen Erdboden. Der Geschmack blieb – wie jedes Mal.
Ju richtete sich auf und wischte mit dem Handrücken über seinen Mund. Die Sonne würde in einer halben Stunde aufgehen. Am Rand der Welt konnte er bereits das erste Licht sehen. Wie ein grauer Schleier vertrieb es die wohltuende Dunkelheit der Nacht, versteckte die Sterne vor ihm und jagte den Akkadier fort.
Das Licht – seine Geißel. Würde er sich bei Tage draußen aufhalten, könnte er eine Verwandlung und die damit verbundene Freilassung seiner Bestie nicht mehr unterdrücken. Naham würde ins Licht streben, Jus Körper übernehmen und wüten. Und er könnte nicht das Geringste dagegen tun. Um also weder Menschenleben zu riskieren noch sich selbst vor das Tribunal der drei Ahnen zu bringen, würde er sich verkriechen. Wie das Tier, das er war, das jeder Akkadier war.
Thanju drehte sich um und ging los. Die Kälte durchfuhr seine nackten Füße, als würden Scherben die Haut durchtrennen. Doch Steine und Unebenheiten nahm er kaum noch wahr. Das raue Klima Islands erinnerte ihn an Tibet, gerade genug, um nicht in Melancholie zu verfallen. Die Kälte hier war eine andere, feuchter und längst nicht so schneidend wie der Wind auf den schneebedeckten Gipfeln, auf denen Jus Tempel stand.
Aber die Aussicht … die Aussicht, die er vom Tor seines Heimes aus genossen
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