Ich knall euch ab!
wirklich vorgegangen ist. Hat er nicht gewusst, dass es Alternativen gibt? Er hätte doch die Schule wechseln oder auch ganz verlassen können. Was hat ihn zu der Überzeugung gebracht, Waffen und Bomben seien die einzige Möglichkeit, seine Probleme zu lösen?
Ich stehe vor der Highschool in Middletown, der Schule, auf der ich vor gerade erst drei Jahren meinen Abschluss gemacht habe, und weiß, dass ich ein anderer Mensch geworden bin. Wir alle haben uns verändert. In Middletown, in unserem Bundesstaat, in diesem Land. In der ganzen Welt. Kann dieses Ereignis etwas Gutes haben? Ist irgendeine Erkenntnis diesen Preis wert? Gary tot, Brendan im Koma. Dutzende Tote an anderen Schulen. Kinder, die nicht weniger ein Recht auf Leben hatten als wir alle. Tötungsmotiv: absolute, ausweglose Verzweiflung.
Eines weiß ich genau: Von nun an werde ich aufmerksamer sein – nicht nur auf die Worte und ihre Bedeutung achten, sondern auch darauf, von wem sie kommen. Wir lassen uns allzu oft von der nach außen zur Schau gestellten Klugheit der Teenager täuschen. Wir bedenken nicht, dass es noch Kinder sind, dass sie leicht zu beeindrucken sind und impulsiv handeln und gern dem Beispiel der Erwachsenen folgen. Wenn Lehrer und andere Verantwortliche an den Schulen nicht bereit sind, die Unterschiede zwischen den Schülern zu tolerieren, darf man sich nicht wundern, wenn manche Schüler sich dies zum Vorbild nehmen.
Und falls ich jemals Kinder bekomme, werde ich dafür sorgen, dass sie auf eine Schule gehen, an der Höflichkeit auf dem Lehrplan steht, an der die Unterschiede zwischen den Menschen respektiert und nicht dem Spott preisgegeben werden. Man hat in diesem Land ein öffentliches Bewusstsein für alles Mögliche geweckt: Alkohol am Steuer, Rauchen, Drogenmissbrauch. Das sollte uns auch beim Thema Toleranz gelingen.
Gary Searle war mein Stiefbruder. Er war kein Ungeheuer, sondern nur ein Junge, der keinen Ausweg mehr wusste. Er war ein Teil meines Lebens. Ich habe ihn geliebt, ich liebe ihn noch immer. Es ist zu spät, ihm zu helfen, aber jeder von uns kennt andere, denen es ähnlich geht. Und denen möchte ich helfen. Und nachdem Sie diese Geschichte gelesen haben, möchten Sie das vielleicht auch tun.
Denise Shipley
Nachwort: Wie kommt es zu Gewalttaten an Schulen?
Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Universität Bielefeld
Morton Rhues Roman »Ich knall euch ab!« geht unter die Haut. Seit am 26. April 2002 ein 19-jähriger Schüler an einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen, die meisten davon Lehrerinnen und Lehrer, erschossen hat, sind die in diesem Roman literarisch aufbereiteten Ereignisse auch für uns ganz nah gerückt. Wie kann es zu einer solch schrecklichen Gewalttat kommen? Mit dem Buch liegt eine Rekonstruktion und dramaturgische Bearbeitung vor, die noch besser als jede wissenschaftliche Analyse nachvollziehen lässt, wie es zu Gewaltausbrüchen von Schülern kommen kann. Doch auch die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahre hatte vorgewarnt: Aggression ist angeborener menschlicher Trieb. Es ist eine Aufgabe der Kultur, in erster Linie der Familie und der Schule, diese innere Antriebsenergie zu zivilisieren. Jeder Ausbruch von unkontrollierter Aggression und Gewalt bei Jugendlichen ist ein Zeichen dafür, dass die schulischen, sozialen, familialen und kulturellen Muster der Zivilisierung nicht gelungen sind. Extreme Gewaltausübung ist immer auch ein Signal dafür, dass ein Mensch in einer unerträglichen Situation lebt.
Die wissenschaftliche Forschung zeigt uns seit Jahren: Gewaltausbrüche von Schülern haben immer etwas mit einem stark angeschlagenen Selbstwertgefühl zu tun. Der Schüler Robert in Erfurt scheint ein Mensch gewesen zu sein, bei dem sich die innere Aggression über Jahre aufgestaut hat. Er fraß die Zurücksetzung, die er in Schule und Familie erlebte, in sich hinein und schuf sich zusehends eine künstliche, krankhafte Welt, abgeschirmt, ohne Bindung zur Familie, zu seinem Verein, zur Schule und zu einem Freundeskreis. Sein Ersatz war eine Video- und Computer-Scheinwelt, die ihm das Gefühl gab, wenigstens irgendetwas zu beherrschen. Dass ein Schüler über viele Monate hinweg den Eltern und seiner näheren Umgebung glaubhaft machen kann, er gehe zur Schule, deutet auf eine nahezu totale Beziehungslosigkeit hin. Robert Steinhäuser kam aus einem oberflächlich gesehen gut situierten Elternhaus, aber unter der Oberfläche einer heilen Familienwelt fand wohl kein wirklicher
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