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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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Unterschied.

24
    Sein Schlaf kam jäh. Auf Seite zwei des Sportteils hatte er ihn erwischt. Die Lehne im Rücken war er mit gesenktem Kopf eingedöst. Seine Handflächen offen über dem Mannschaftsbild der Giants. Ein Netz aus Linien. Die des Herzens durchkreuzt. Schmierige Druckerschwärze am rechten Zeigefinger. Wieder glich er einem Kind. Harmlos. In seiner Harmlosigkeit unbeschützt. Und wieder spürte ich den Wunsch, ihn zuzudecken, diesen natürlichen Wunsch, ihn, wie auch immer, vor einem Unheil zu bewahren.
    Als er erwachte, war es schon halb sechs vorbei. Gähnend streckte er sich und wischte sich den Sand aus den Augen. Ein paar Minuten noch, sagte er zwinkernd, dann geht der Tag zu Ende. Keine Überstunden heute. Er faltete die Zeitung zusammen. Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Mein erster Satz, wenn ich, durch die Tür herein, im Eingang stehe. Es riecht nach Knoblauch und Ingwer. Frisch gedünstetem Gemüse. Ich stehe im Eingang, sauge diesen Geruch in mich ein und sage: Das Schönste am Arbeiten ist das Nachhausekommen. Kyōko schimpftmich einen Dummkopf dafür. Aus ihrem Mund klingt es wie das zärtlichste Du. Ganz ohne Beleidigung. Verstehst du? Sie könnte mich weitaus Schlimmeres nennen. Einen Lügner, einen Betrüger. Und trotzdem wäre darin, ich hoffe es inständig, dieselbe Zärtlichkeit, mit der sie mich einen Dummkopf schimpft. Obwohl. Ich will es lieber nicht wissen. Solange noch Hoffnung ist, will ich nicht wissen, wie es wäre, wenn ich ihr die Wahrheit sagte. Und wozu überhaupt? Sie hat Besseres, sehr viel Besseres als die Wahrheit verdient.

25
    Fünf vor sechs. Er zupfte sich die Krawatte zurecht. Nicht zu hastig. Eher, als ob er sich zurückhalten müsste. Ein gezäumtes Pferd, das sich selbst am Riemen reißt. Immer wieder schüttelte er seinen Arm in die Höhe, schob den Hemdsärmel beiseite, schaute auf die Uhr. Ich gehe jetzt. Drei vor sechs. Nein, ein bisschen noch. Zwei vor sechs. Nun aber wirklich. Eins vor sechs. Also dann. Bis morgen? Ich nickte. Er sagte leise, fast nicht hörbar: Ich danke dir. Ein letzter Blick auf das Handgelenk. Punkt sechs. Mit einem Ruck hatte er sich erhoben. Ich tat es ihm nach. Wir standen Aug in Aug, gleich groß. Auf Wiedersehen. Meine Stimme. Nach zwei Jahren des Schweigens war sie von gläserner Durchsichtigkeit. Auf Wiedersehen. Das war es. Ein krispes Aufeinandertreffen von Konsonanten und Vokalen. Noch einmal verstummte ich. Danach brach es aus mir heraus: Mein Name ist Taguchi Hiro. Ich bin zwanzig Jahre alt. Zwanzig ist das Alter, das ich mir ausgesucht habe. Ich verbeugte mich, linkisch, blieb in der Verbeugung, bis er gegangen war. Sonderbare Genugtuung: Ich kann das noch.Mich jemandem vorstellen. Ich habe es nicht verlernt. Auch wenn mir mein Name auf der Zunge zerkrümeln mag.

26
    Während ich nach Hause ging, spann ich seine Geschichte weiter. Vielleicht hatte es gereicht, dass er sich mir anvertraut hatte, und er würde an diesem Abend noch heimkehren und sich aussprechen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht würde er es so lange hinausschieben, bis die letzten Ersparnisse aufgebraucht wären. Und vielleicht war es gerade das, worauf er wartete: Dass Kyōko dahinterkäme. Dass sie eines Tages aufwachte, mit dem mulmigen Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie würde Nachforschungen anstellen, ihm auf die Schliche kommen, ihn zur Rede stellen. Und vielleicht waren wir uns eben darin ähnlich. Wir sahen beide dabei zu, wie uns alles entglitt, und fühlten beide eine heimliche Erleichterung darüber, nicht in der Lage zu sein, die Dinge geradezubiegen. Vielleicht war das der Grund, warum wir aufeinandergetroffen waren. Um gleichzeitig und unabweisbar festzustellen: Dass es uns nicht möglich ist, nicht von hier, nicht von jetzt aus, das, was geschehen ist, rückgängig zu machen. Und vielleicht war deshalb seine Geschichte auch die meine. Sie handelte von dem, was er unterlassen hatte und was demnach nicht rückgängig zu machen war.
    So viele Menschen, die nach Hause gingen. So viele Schuhe im Gleichschritt, ich kam aus dem Takt. Dort vorne, unter der Straßenlaterne, sah ich Vater, wie er an einem blühenden Strauch vorbei, den Blick stur zu Boden, von der Arbeit kam. Er sah mich nicht. Ich hatte mich rechtzeitig hinter einem Getränkeautomaten versteckt. Ich wollteuns, ihm und mir, die Peinlichkeit

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