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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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ersparen, uns auf offener Straße zu begegnen und nichts zu sagen zu wissen. Erst als er um die Ecke gebogen war, tat es mir leid, ihm nicht wenigstens einen Guten Abend gewünscht zu haben.

27
    Ein herrlicher Tag, was? Wenn der Himmel so blau ist, würde man am liebsten ans Meer hinausfahren. Schade eigentlich. Er sah kopfschüttelnd an sich herunter. Da habe ich frei und bin es doch nicht. Aber morgen ist auch noch ein Tag. Er setzte sich. Seufzte. Taguchi Hiro also. Ich dachte ja schon, du seist stumm und irgendwie, ich gebe es zu, wäre mir das sogar recht gewesen. Natürlich nicht wirklich, wenn du verstehst. Er kratzte sich am Kinn. Vor dem Grün der Bäume hinter ihm warf eine Läuferin die Arme in die Luft. Sie trabte weiter, rotes Stirnband. Von der Straße kam leises Gehupe. Das Geräusch von Autos, an- und abschwellend. Es verfing sich in den Büschen ringsherum, blieb außerhalb des innersten Kreises, der uns umschloss.
    Er fuhr unvermittelt fort. Irgendwie wäre es mir recht, wenn Kyōko wüsste, dass ich hierher komme. Sie tröstet mich, die Vorstellung, sie wüsste, instinktiv, aus ihrem Bauch heraus, wäre, weil sie es wüsste, meine Komplizin, machte mir zuliebe mit. Erbärmlich, nicht wahr? Die Vorstellung, sie würde aus freien Stücken mitmachen. Heute früh, als sie mir die Krawatte band, sagte sie, und sie sagte es ernst: Wenn man nur verrückt genug wäre, alles anders zu machen. Einmal auszubrechen, sagte sie und holte kurz Luft. Das wäre der Moment gewesen, ihr zu gestehen, dass ich längst draußen bin. Aber da hatte sie die Krawatte schon fertiggebunden und was blieb, war alleine die Scham. Ichschäme mich meiner Scham. Wie viel Kraft ich dafür aufwende, sie vor mir selbst und Kyōko zu verbergen. Denn es ist doch so: Ich habe nicht nur meine Arbeit verloren. Der Verlust, der am schwersten wiegt, ist der der Selbstachtung. Mit ihm fängt aller Niedergang erst an. Wenn man am Ende eines überfüllten Bahnsteigs steht, die Lichter des herannahenden Zuges sieht und sich dabei ertappt, den einen Augenblick zu berechnen, in dem ein Sprung auf die Gleise den sicheren Tod bedeuten würde. Man tritt einen Schritt nach vorn. Man spürt jetzt! jetzt! jetzt! und dann: Nichts! So ein dunkles Nichts! Nicht einmal dafür taugt man noch. Der Zug fährt ein. Er ist voller Menschen. Man spiegelt sich in den Fenstern, die an einem vorübergleiten, und erkennt sein eigenes Gesicht nicht mehr.

28
    So! Er straffte sich. Nun aber Schluss. Ich rede und rede. Du musst denken, ich könne keinen Punkt setzen. Genug von mir. Jetzt bist du dran. Erzähl mir was.
    Was?
    Ganz egal. Das erste, was dir einfällt. Ich höre zu.
    Und damit lehnte er sich zurück und schien tatsächlich nichts anderes vorzuhaben, als zuzuhören.
    Wo anfangen? Ich suchte nach einem Wort, das seinem letzten gerecht werden würde. Es ist schwierig, sagte ich. Das erste, was mir einfällt, ist, dass es schwierig ist, etwas zu erzählen. Jeder Mensch ist eine Ansammlung von Geschichten. Ich aber. Ich zögerte. Ich habe Angst davor, Geschichten anzusammeln. Ich wäre gerne nur eine, in der nichts passiert. Angenommen, Sie werfen sich morgen früh vor den Zug. Was gälte dann das, was ich Ihnen heute erzähle?Und ist es überhaupt von Gültigkeit? Wie gesagt. Es ist schwierig. Das erste, was mir einfällt, ist: Wir treiben auf schmelzendem Eis.
    Ein hübscher Satz. Er wiederholte ihn. Wir treiben auf schmelzendem Eis. Von dir?
    Nein, nicht von mir. Von Kumamoto. Ich schluckte. Von Kumamoto Akira.
    Das Sprechen überschwemmte mich. Ich war ein ausgetrocknetes Flussbett, in das nach Jahren der Dürre ein starker Regen fällt. Der Boden saugt sich schnell voll und danach gibt es kein Halten mehr. Das Wasser steigt und steigt, über die Ufer hinweg, reißt Bäume und Sträucher nieder, leckt über das Land. Eine Befreiung, mit jedem Wort, das ich sprach.

29
    Kumamoto schrieb Gedichte. Seine Schulhefte waren voll davon. Stets auf der Suche nach dem perfekten Gedicht, seine fixe Idee, saß er, einen Bleistift hinter das Ohr geklemmt, vollkommen abgezogen von der Welt, ein Poet durch und durch, selbst ein Gedicht.
    Wir waren beide in derselben Abschlussklasse. Beide unter demselben Druck, sie zu bestehen. Er nahm es leichter als ich. Oder besser, er tat so. Wofür lernen, witzelte er, wenn mein Weg ein

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