Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
Vom Netzwerk:
Abdruck seiner Finger.
    Du bist ja krank, flüsterte ich.
    Er gab zurück: Du auch.
    Es war eine Warnung. Ich hörte und überhörte sie.

32
    Tage später steckte mir Kumamoto, es war in der Physikstunde, einen Zettel zu. Darauf stand: Heute um acht. Bei der Kreuzung. Ich will es wiedergutmachen. Den Zettel habe ich noch. Ich weiß genau, wo in meinem Zimmer, in welcher Schublade. Unter dem uralten Stein, in dem ein Insekt eingeschlossen ist. Bisweilen hole ich ihn hervor und lese, Wort um Wort, wie ein Gebet: Heute um acht. Bei der Kreuzung. Ich will es wiedergutmachen.
    Seine Krankheit?
    Ich glaube, sie war sein unbedingter Wille. Er wollte und wollte und wollte. Es wiedergutmachen. Er wusste, dass er nicht einlösen konnte, was er seinen Vätern schuldig war, und er wusste, dass seine Heiterkeit nicht ewig vorhalten würde. Man kann nicht ewig behaupten: Ich kann nichts dafür. Ab einem gewissen Alter, das er nicht erreichen wollte, muss man einsehen, dass man immer etwas dafür kann. Dies war seine Krankheit: Zu jung erkannte er, dass nichts vollkommen ist, und er war zu jung, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Dass dies auch meine Krankheit war, davor wollte er mich vielleicht warnen.
    Als ich an jenem Abend das Haus verließ, war die Luft feucht und stickig. Ein nasses Tuch, das sich um den Körper legte. Ich war gespannt, rannte, unter den Füßen der flüssige Asphalt. Schon aus der Ferne erspähte ich ihn. Sein Gesicht hatte er mir zugewandt. Sengender Blick, er sah mich an. Hob seine Hand, rief etwas. Sein Mund ging auf und wieder zu. Ich verstand ihn nicht. Vom Lärm der Straße übertönt, war sein Ruf längst verhallt, als er, ein Schwimmer, vor meinen rennenden Augen, ohne sich umzusehen in den Verkehr hineinstürzte. Die Hand hatte er hochgestreckt. Quietschende Bremsen. Die Hand noch für Sekunden in der schweren Luft. Dann sackte sie nieder. Jemand schrie: Ein Unfall! Ich erreichte keuchend die Stelle. Spitze Ellenbogen in meiner Seite. Ich wühlte mich durch die Kette von Passanten. Kumamoto, blutüberströmt. Seine Hand. Weiß und schmal. Das Heulen der Sirenen. Ich trat zurück. Blind. Erblindet. Wurde fortgestoßen, weit weg. Hey du! Alles in Ordnung? Ich war auf den Gehsteig gesunken. Neben mir ein aufgeplatzter Müllsack. Verrottetes Fleisch. Ich verlor mein Bewusstsein. Als ich es wiedererlangte, hatte man ihn bereits weggeschafft. Über mir Werbung für Gesichtsmasken. Alles in Ordnung? Ich stand auf und ging.

33
    Ich ging nach Hause, auf zitternden Beinen. Jeder Mensch, dem ich begegnete, hatte seine Augen. Kumamoto überall. Dichte Leiber, darunter Knochen, Organe, nichts Bleibendes. Sein Tod, war er überhaupt tot?, hatte mich mit einem Röntgenblick ausgestattet. Ich erinnere mich an die Frau, die vor mir herging. Sie war schön. Zart gebaut. Ich schaute auf ihren Rücken und betrachtete, ein- und ausatmend, ihre im Gehen hin- und herschwingende Wirbelsäule. Diese Wirbelsäule, verstand ich mit einem Mal, ist in ihrer Bewegung dem Tod hingeneigt. Ich erinnere mich an den Mann, der ihr entgegenlief, sie beim Arm nahm, ihr die Hände küsste. Auch er: Asche und Staub. Meine Eltern. Ich erinnere mich. Mutter saß, ein Skelett, vor dem Fernseher. Vater trank, ein Skelett, schaumiges Bier. Ah, da bist du ja endlich. Nackte Schädel, die mich beäugten aus starrenden Löchern. Was soll aus dir werden, hörte ich. Treibst dich spätabends herum. Hast du vergessen? Deine Zukunft! Vater biss in ein Stück rohe Wurst. Reißende Zähne. Ich taumelte über den Flur. Mein Schatten, mir nach, in mein Zimmer. Die Tür fiel leise ins Schloss.

34
    Hier, nimm einen Schluck. Du musst etwas trinken.
    Die Krawatte, rotgraue Streifen, holte mich zurück in den Park.
    Immer langsam, sagte er, so ist es gut.
    Ich war froh, dass er nicht mehr sagte als das.
    Denn was soll man sagen, fuhr ich fort. Was soll man sagen, wenn einem die Wörter ausgegangen sind? Nachdemdie Tür hinter mir zugefallen war, fühlte ich eine sprachlose Leere. Ich legte mich hin, sprachlos, rannte in Gedanken noch einmal auf die Kreuzung zu. Kumamotos Mund. Was hatte er gerufen? Wieder und wieder versuchte ich, es von seinen Lippen abzulesen, wieder und wieder misslang der Versuch. War es ein Wort gewesen? Ein Wort wie Freiheit? Oder Leben? Oder Glück? War es ein Nein gewesen? Oder ein Ja? Ein schlichter

Weitere Kostenlose Bücher