Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
wieder überhören würde. Meine innere Stimme, die schon viel früher als der Schiedsrichter Babak Rafati wusste, dass endgültig Schluss sein musste, die mir immer wieder sagte: »Babak, das ist nicht mehr dein Spiel. Du wirst dieses Spiel nicht spielen, lass los, bevor es zu spät ist.« Doch ich war noch nicht so weit zu hören. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich das Ende erreicht hatte. Zu viele Jahre hatte ich Wochenende für Wochenende um meinen Aufstieg hart kämpfen müssen. Sollte ich das alles aus einer getrübten Stimmung heraus einfach so aufgeben, hinschmeißen, abhauen – was würden die anderen sagen? Wie würde ich dastehen vor all den Menschen, die ich liebte?
Ich versuchte seit Stunden zu schlafen, jedoch fiel mein Auge immer wieder auf diese Digitaluhr unterhalb des übergroßen TV-Flatscreen vor meinem Bett. Perfekt für Fußballübertragungen. Das Blinken der Uhr macht wahnsinnig, wenn man schlafen muss und nicht schlafen kann. Wenn man sich im Bett dreht, sich unruhig von Seite zu Seite wirft. Sich zur Ruhe zwingt und dadurch immer unruhiger und dann wütend wird, weil einen der Schlaf jetzt erst recht flieht. Das Licht scheint den ganzen Raum zu fluten. Es pulst durch das Kopfkissen, unter dem du deinen Kopf vergräbst. Durch das Handtuch, das du dir über die Augen legst. Und in meiner Verzweiflung über meine Schlaflosigkeit glaubte ich sogar, das Ticken zu hören – obwohl mein Verstand sagte, Babak, das ist eine Digitaluhr.
Diese Uhr, ihr blaues Licht würde in den kommenden Stunden meinen Wahnsinn beschleunigen. Das Pulsen dieser Uhr würde der Countdown in meinen Untergang sein. 2:55 Uhr. Es entwickelte sich ein extrem unerbittlicher Kampf mit dieser Uhr. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit, denn ich rechnete immer wieder aus, wie viel Zeit bis zum Anpfiff blieb. Jede Sekunde ein Impuls, jedes Mal eine Sekunde, die mich weitertrieb Richtung Spielbeginn. 15:30 Uhr Anpfiff. Köln gegen Mainz. Hellmut Krug, nicht gerade einer meiner Förderer, würde im Stadion sitzen und seine Aufgabe wäre, auf einen Fehler von mir zu lauern. Es gibt kein Spiel ohne Fehler für einen Schiedsrichter, immer wieder verschwindet das Spiel im Graubereich. Niemand ist unfehlbar. »Fußball ist ein Geschäft, das Menschen verbrennt. Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak.« Herbert Fandel, von dem dieser Satz stammt und Vorsitzender der DFB-Schiedsrichterkommission, würde Krugs Fehlerliste aufgreifen und dann würde alles seinen Lauf nehmen. Wie sollte ich dieses Spiel so unausgeschlafen überstehen? Ich war an einem Punkt angelangt, wo es kein Zurück mehr zu geben schien.
Nach dem Abendessen waren wir ins Hotel zurückgefahren. Unten in der Hotellobby saß Malik Fathi von Mainz 05, weil die Mannschaft im selben Hotel untergebracht war. Ich wollte gut Wetter machen, nach meinen vier »verpfiffenen« Spielen, zum Teil mit Fehlentscheidungen gegen Mainz 05, und ging auf ihn zu. Immer wieder Mainz 05. Dieser Verein und ich hatten in dieser Vorsaison eine üble Vorgeschichte. HSV gegen Mainz 05. Mein »Wembley-Tor« in Hamburg, 6. März 2011. 1:0 gegen Mainz 05. Eine Fehlentscheidung! Der Aufruhr danach. Unvergessen. Und acht Monate später immer noch nicht bewältigt. Die Fans waren immer noch geladen. Ich wusste, dass morgen die ganze Bundesliga beim kleinsten Fehler von mir wieder Kopf stehen würde. So wollte ich Fathi ein versöhnliches Signal geben. Ich tippte ihm freundlich auf die Schulter, machte auf locker, machte ein bisschen Smalltalk, merkte aber schnell, wie die Blockade in meinem Kopf mich um jedes Wort ringen ließ und meine Fassade zu kollabieren drohte. Ich quälte mir noch ein paar aufmunternde Worte für das morgige Spiel raus und ging. Normal trinken wir noch kurz an der Hotelbar ein Abschlussbier, an diesem Abend aber standen wir alle unter dem Eindruck des bevorstehenden Spiels. Und nachdem wir uns schon beim Essen angeschwiegen hatten, ließ ich das letzte Bier an der Bar ausfallen, zumal ich keine Lust verspürte, einen weiteren Smalltalk führen zu müssen. Wir gingen alle viel früher als sonst auf unsere Zimmer. Und hier begann der Anfang vom Ende eines Albtraums. Der Punkt, auf den ich mich wie von unsichtbaren Fäden gezogen seit Monaten zubewegt hatte.
Als ich mein Zimmer betrat, spürte ich sofort, dass an diesem Abend alles anders werden sollte. Das Zimmer kam mir unwirklich, imaginär, wie gefüllt mit einem Nebel vor. Als ich eintrat, hatte ich das
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