Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
Gefühl, dass es mich mit einem Ruck einsaugte, mich eine treibende Kraft hinter die Tür dieses Hotelzimmers wuchtete. Die Tür flog hinter mir, wie von einem Sturm getrieben, sehr heftig zu, Luft heulte durch die Fugen hinaus und ließ mich zurück in einem Vakuum. Ich saß in meinem Kerker. Man hört immer, dass ein Mensch, kurz bevor er stirbt, sein ganzes Leben noch mal in Millisekunden in einer Art Zeitrafferfilm an sich vorüberziehen sieht. Bei mir dauerte dieser Film eine ganze Nacht. Schicht für Schicht, Stück für Stück würde ich die Bilder meiner Erinnerungen bis in alle Einzelteile zerlegen, bis ich den Kern wiederfinden würde, der mein Leben war und von dem ich annahm, dass ich es für immer verloren hatte. In dieser Nacht suchte ich den Punkt, wann es begonnen hatte schiefzulaufen. Und ich fragte mich, warum ich es nicht aufgehalten hatte. Warum ich nicht gesehen, nicht verstanden, nicht erkannt hatte, was dabei war, mich zu zerstören. Warum ich nicht rechtzeitig reagiert hatte, um mich zu retten. Warum ich es nicht geschafft hatte, mich abzuwenden und ein neues Leben zu beginnen. In dieser Nacht schien alles so logisch zu sein. Ich war schuld. Ich hätte selbst alles ändern können. Dieser Prozess des Erkennens, so scheint mir heute, ließ sich nur durch die enorme Gewalt der Verzweiflung freisetzen. Das hier ist die Geschichte meiner Zertrümmerung.
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Katastrophen beginnen meist ganz unscheinbar. Bei mir begann der Riss, der mein Leben wie eine Eisscholle in Stücke sprengen sollte – mit einem Riss in meinem hinteren Oberschenkelmuskel. Er war nicht die Ursache, aber das Symptom, dass mein Leben dabei war, aus dem Gleichgewicht zu kippen. Es geschah in der 10. Minute beim Spiel Dynamo Tiflis gegen Banik Ostrau, dem damaligen FC Bayern Tschechiens, im Sommer 2010. Ein peitschendes Ziehen, das kalt brannte. Ich war gewohnt, körperlichen Schmerz zu ignorieren, und pfiff das Spiel bis zum Ende durch. In den folgenden Tagen hatte ich wegen meiner beruflichen Belastung keine Zeit gefunden, mich von einem Arzt behandeln zu lassen – oder anders ausgedrückt: Ich hatte mir die Zeit nicht genommen, auf meinen Körper zu achten.
Ich war nicht nur Schiedsrichter im Profifußball, sondern auch Filialleiter einer Bank und hatte doppelten Terminstress. Vor allem, wenn in der Vorwoche wegen des Trainings und der Spiele einiges im Büro liegen geblieben war. Zudem war ich sicher, dass es sich nur um eine leichte Blessur handelte, die ich wie gewohnt einfach so wegstecken würde. Vier Tage später fuhr ich auf den Sommerlehrgang der Schiedsrichter im idyllischen Altensteig-Wart bei Stuttgart, in Baden-Württemberg. Das Ziehen im Oberschenkel hatte nicht nachgelassen.
Dieser Lehrgang ist als »Schiri-TÜV« berüchtigt, weil bei den dort stattfindenden körperlichen Leistungsprüfungen die Fitness für die kommende Saison getestet wird. Unter anderem gibt es den Sprinttest (6 x 40 Meter in je maximal 6,2 Sekunden) und anschließend den Konditionstest (HIT-Test-Intervall, bei dem eine Strecke von 150 Meter in 30 Sekunden gelaufen und 50 Meter in 35 Sekunden gegangen werden). Dieser Belastung muss man sich 20 Mal hintereinander aussetzen. Das Prozedere ist bei den Mannschaften der Bundesliga in ihren Trainingslagern ähnlich und auch Bestandteil ihrer Saisonvorbereitung, die sehr kraftraubend ist. Wer im Urlaub während der Sommerpause nicht regelmäßig hart trainiert und auf die Gewichtsreduktion geachtet hat, muss bei schlechten Bewertungen um seine Aufstellung fürchten. Zu den Läufen über 13 Kilometer Distanz, die ich jeden zweiten Tag frühmorgens oder nach der Arbeit absolvierte, hatte ich mir zusätzliche Trainingseinheiten im Fitnessstudio auferlegt.
Als ich in Altensteig-Wart ankam, war ich in Sorge, ob ich wegen meiner Verletzung die Qualifikation für die kommende Saison meistern würde. Das Sommertrainingslager stand zudem unter den besonders ungünstigen Vorzeichen der Machtkämpfe und Intrigen zwischen DFB, Liga und der Schiedsrichterkommission. Es hatte Skandale gegeben. Da war der Wettskandal um die gekauften Bundesligaspiele um den Bundesligareferee der Zweiten Liga, Robert Hoyzer. Und die Geschichte um die angebliche homoerotische Beziehung zwischen dem ehemaligen Unparteiischen Manfred Amerell, bis kurz zuvor Sprecher des DFB-Schiedsrichterausschusses, und dem Bundesligareferee Michael Kempter, die dermaßen eskalierte, dass am Ende die Steuerfahndung bis in die Spitze der
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