Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Fünf Finger
Am Himmel drifteten die letzten zwei Wolken aufeinander zu. Eine verschwommene Glühbirne und ein puffiges, weißes Etwas, das sich mit nichts vergleichen ließ.
Weiter unten stand Albert, flankiert von seinen Koffern, auf einem grasarmen Fleckchen Erde vor einer Haustür in Königsdorf, betrachtete den Klingelknopf und dachte nach. Wer Albert kannte – was nur wenige von sich behaupten können –, wusste, dass er nicht anders konnte. Früher hatten ihn andere Kinder Streber oder Brillenschlange genannt; dabei trug er gar keine Brille und war alles andere als fleißig. Wenn ihm eine Aufgabe gestellt wurde, versuchte er, sie zu lösen, indem er ausgiebig darüber nachdachte. Das war alles. Und es bedeutete auch nicht, dass er ausschließlich gute Noten schrieb. Für Albert gab es keinen unwirklicheren Satz als
Das hätte ich nie gedacht.
Wie konnte man etwas nicht denken? (Dachte er oft.)
Die schwierigste ihm bekannte Aufgabe – nach deren Lösung Albert schon seit neunzehn Jahren suchte – wartete hinter der Tür, deren Klingel er berührte, aber nicht drückte.
An diesem Nachmittag hatte Albert über siebzehn Stunden Reise hinter sich, mit dem Nachtzug, der Regionalbahn undder Buslinie 479, deren Fahrer jede einzelne Haltestelle im Voralpenland, von
Pföderl
über
Wolfsöd
bis hin zu
Höfen
, angesteuert hatte, obwohl weder jemand ein- noch ausgestiegen war, und nun, da nur noch ein Stückchen fehlte, war er nicht sicher, ob er überhaupt ankommen wollte.
Was Albert nie nicht dachte, wenn er nach Königsdorf kam: dass er Fred schon seit seinem dritten Lebensjahr besuchte, anfangs in Begleitung einer Ordensschwester aus Sankt Helena, dem Waisenhaus, später allein. Dass Fred und er sich nie besonders nah gekommen waren. Dass er, als er fünf wurde (und Fred sechsundvierzig), darauf geachtet hatte, dass Fred seine Schwimmflügel trug, wenn sie Hand in Hand in den Baggersee sprangen. Dass er mit neun für Fred an der Kasse bezahlt hatte, weil Albert das Wechselgeld errechnen konnte, ohne seine Finger zu verwenden. Dass er im Alter von zwölf Jahren Fred von dem Traum abgeraten hatte, Schauspieler zu werden. (Der diese Idee später nur deshalb verwarf, weil er nicht wollte, dass man ihn, wie er sagte, bei der Arbeit beobachtete.) Dass er im Jahr darauf immer noch auf Freds Schwimmflügel geachtet hatte. Dass er mit fünfzehn versucht hatte, Fred aufzuklären, der ihm, was das Thema betraf, bis heute nicht glaubte und bloß verlegen lachte, sobald Albert es ansprach. Dass Fred ihn immer nur Albert nannte und Albert ihn immer nur Fred. Dass er noch nie Vater zu ihm gesagt hatte.
Fred war eben Fred – die oberste Regel in Alberts Leben. Sie galt schon seit seiner Geburt, und sie würde auch dieses Jahr gelten.
Jedenfalls noch für wenige Monate.
Die Finger einer manikürten Hand hatte ihnen der Kardiologe gezeigt, und Albert hatte sich gefragt, ob der Arzt das immerso mache, ob er die Monate, die seinen Patienten blieben, vorzugsweise mit seinen Fingern angab, um sich die Suche nach einfühlsamen Worten zu sparen. Fünf Finger. Albert hatte sie kaum beachtet, hatte Fred an der Hand genommen und mit ihm das Krankenhaus verlassen und nicht auf die Rufe – wie auch später nicht auf die Anrufe – des Arztes reagiert.
Damit er nicht mit Fred sprechen musste, hatte Albert auf dem Heimweg viel geredet, vor allem über den Föhn, wie stark der sei, für diese Jahreszeit, wirklich ungewöhnlich stark.
»Fünf Finger sind schlimm«, hatte ihn Fred unterbrochen.
Albert war stehen geblieben und hatte nach Worten gesucht.
»Fünf Finger sind sehr schlimm, Albert.«
»Fünf Finger sind gar nicht so schlecht«, hatte Albert endlich erwidert.
»Wirklich? Wie viele hast du, Albert? Wie viele Finger hast du, bis du tot sein musst?«
»Das weiß ich nicht.«
»Sind fünf viel?«
»Fünf sind ziemlich viel«, sagte Albert so ermutigend er konnte.
»Ich
habe
fünf Finger!« Ein erleichtertes Lachen. »Du, Albert, ich wette, du hast auch total viele Finger.«
Noch am selben Abend war Albert abgereist, um sich seinen Abiturprüfungen zu stellen. Eine Pflicht, die er in Anbetracht der Neuigkeiten als mindestens ebenso lächerlich empfunden hatte wie seine Entscheidung, ihr nachzukommen.
Eigentlich wollte er nur fort.
Zwei Monate später, nach dem Abitur, waren die meisten seiner Freunde in die Ferne geflüchtet. Australien und Kambodscha waren bei Waisenkindern besonders beliebt;
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