Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rayk Wieland
Vom Netzwerk:
Grund, daß nie jemand jemanden sehen oder, wie es im Geheimdienst-Jargon hieß, dekonspirieren konnte. Die Flure waren hier alle paar Meter mit Türen und Doppeltüren regelrecht gesprenkelt. So viele Türen hatte kein anderes Haus der Welt. Gut möglich, daß es der exorbitante Türenbedarf der Stasi war, der die DDR zugrunde richtete.
    Durch ein ausgeklügeltes System durfte nur eine Person im Abschnitt einer Tür sein, so daß man zwischen den Türen wartete, bis andere Türen sich geöffnet oder geschlossen hatten. Nicht auszudenken, wie früh ein Stasi-Mitarbeiter aufbrechenmußte, wenn er sich zur Notdurft auf den Weg machte, denn er hatte Hunderte von Türen zu öffnen und zu schließen.
    Der Stasimann in Zivil, der mich am Eingang des in sich kolossal verbauten, verschachtelten Neubaukomplexes an der Magdalenenstraße in Empfang genommen hatte, nannte sich Schnatz, Oberleutnant Schnatz. Keine Ahnung, ob er wirklich so hieß oder Schnatz nur einer von fünfzig Tarnnamen war, die er in der Identitäts-Garage hatte. Er war, schätzte ich, um die vierzig, groß, sportlich und flink und trug einen Ring von kurz geschorenem Haar unter der Halbglatze. Er arbeitete sich mit mir durch den Parcours. Wenn wir eine Schwelle überschritten hatten, schloß er zunächst, um mich herumgreifend, die Tür hinter uns, drehte sich wieder nach vorn, öffnete die andere Tür einen Spalt, schob den Kopf hindurch, um zu sehen, ob irgendwelche Personen im nächsten Bereich waren, schob die Tür dann ganz auf und bedeutete mir zu folgen. Nicht sehen und nicht gesehen werden war hier die Devise. Nach einer beachtlichen Strecke und mehrfachem Wechseln der Spur bei Doppel- und Dreifachtüren-Knotenpunkten erreichten wir schließlich den dunkel getäfelten Besprechungsraum.
    Wir setzten uns. Er schlug die Beine übereinander, ich, um meine Bereitschaft sowohl zur Kooperation als auch zum Widerstand anzudeuten, ebenfalls, aber in die andere Richtung. Die Vermutungen, die durch meinen Kopf stromerten, waren unerfreulich in jeder Hinsicht. Was wollten sie von mir? Mich anwerben? Oder mich ausbürgern? So viel dazwischen gab’s ja nicht.

    Es begann ein Gespräch, ein scheinbar unbefangenes Geplänkel, wie mit einer Urlaubsbekanntschaft, über dieses und jenes, ein Kaffeeplausch, und ich glaube, es gab sogar Kaffee, an dem ich mißtrauisch nippte. Die Konversation drehte sich auffällig unauffällig ums Reisen, um die Frage, was vom Reisen im allgemeinen zu halten sei, was das Reisen für Vor- und Nachteile mitsich bringe, und wie ich speziell den Reisen meines Freundes Bert, wo wir gerade beim Thema seien, gegenüberstehe.
    Eine heikle Thematik für Plauderstunden an Staatssicherheitskaminen. »Beihilfe zur Republikflucht« war ein Straftatbestand in engster Verwandtschaft mit der »Republikflucht« selbst. Auch die Mitwisserschaft war strafbewehrt. Es galt, vorsichtig zu agieren, ohne vorsichtig zu wirken.
    »Kritisch«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Es sei nun mal so, daß ich das Reisen an und für sich ablehne, ja ihm jeden Sinn abspreche. Prinzipiell. Letzten Endes, das sei meine Meinung, könne man da keine neuen Erfahrungen machen. Die Welt sei schließlich überall gleich, und zwar deshalb, weil man sich selbst immer mitnehmen müsse, weil man sich selbst nicht entkommen könne. Und da sei es doch besser, gleich zu Hause zu bleiben.
    Mein Gesprächspartner schlug die Beine andersherum übereinander.
    Mein Freund Bert hingegen, erklärte ich weiter, sei ja schon immer vom Reisen besessen gewesen. Rucksäcke tragen, auf Bahnhöfen stehen, zu fremden Leuten in fremden Sprachen »Hallo!« sagen, das finde er eben, wieso auch immer, toll.
    Oberleutnant Schnatz nickte schwach und schrieb alles mit. Zwischendurch strich er sich mit der Faust über die Halbglatze, ein merkwürdiger Tick.
    »Sie haben nie über Reisepläne gesprochen?«
    »Nie«, antwortete ich. Ich weiß, man soll nie »nie« sagen, aber diesmal schien es mir nicht unratsam zu sein.
    »Also nie?« sagte er.
    »›Nie‹ trifft die Sache«, erklärte ich.
    Langer Blick von ihm, kurzer Blick von mir zurück.
    »Beziehungsweise, wenn, natürlich, hinterher. Er weiß, was ich davon halte, und will sich die Reiselust, logisch, von mir nicht madig machen lassen.«
    Wir wechselten noch mal die Beinstellung.
    Er sagte, daß ich mich melden solle, wenn Bert sich melden würde.
    Ich sagte, daß ich das tun würde, falls Bert das täte.
    Dann war es vorbei, Oberleutnant Schnatz

Weitere Kostenlose Bücher