Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
der Erinnerung. Bei mir flutschte der Korken, grauschwarz angelaufen, raus wie geölt, die Nase meldete schwerste Harztöne, und dann … oha … spuckte ich das Gebräu, das ich beinahe gekostet hätte, in einem beachtlichen Bogen so weit wie möglich in die Kellerecke.
Auch lange Flure in Krankenhäusern hatten Zeittunnel-Qualitäten: flackernde Neonlampen an der Decke, hellgrün gestrichene Wände, Bohnerwachsmilieu, um immer wieder neue Ecken führende Schilder, verschlossene Türen und ernst herumschreitende Ärzte, die einen keines Blickes würdigen, an den Wänden Bilder mit albernen, von Pseudo-Kinderhandgemalten Sonnenaufgängen, ein Warteraum voll mit Leuten, alle mit der Gewißheit, daß sie nie aufgerufen werden, daß nie eine Schwester kommen wird, aber auf einmal ist sie eben doch da, hellblauer Kittel, schmucklose Hochsteckfrisur, und sie ruft in dieser alten intoleranten Masche halb fragend, halb vorwurfsvoll einen Namen, meinen Namen: »Herr W.? Bitte!«
In der folgenden Woche mied ich meinen Briefkasten demonstrativ und marschierte kalt lächelnd an ihm vorbei. Wer weiß, welche Enthüllungen er, meine Person betreffend, noch parat hatte? Vielleicht war ich der Entdecker der Spreewaldgurke? Das Körperdouble des Ampelmännchens? Am siebten Tag wurde es mir zu albern, und ich wagte es doch. Die üblichen Rechnungen, die übliche Reklame, die üblichen Prospekte, darunter allerdings einer, den ich früher garantiert übersehen hätte: »Expeditionen in ferne Zeiten – Reisen an ferne Orte. Wo Sie schon einmal waren, ohne es zu wissen.« In der Mitte des Blattes glitzerte ein Bild von einem ausbrechenden Vulkan, der kein Feuer und keine Lava ausspie, sondern eine leuchtende Seifenblase. »Praxis für Regressions-Begleitung. Rückführungen – Rebirthing – Reinkarnation. Verbinden Sie tief verdrängte Schattenbereiche mit hohen Ebenen des Lichts! Vereinbaren Sie einen Schnuppertermin in unserem Zeitreisebüro!«
3
T RAUM ODER W IRKLICHKEIT ? Eine pedantische Unterscheidung, die gern überschätzt wird und schnell altmodisch werden kann. Den »Verein der unbekannten Untergrunddichter Deutschlands« gab es wirklich.
Wie ich der Tafel am Eingang des Hauses entnahm, war er ein unbekannter Unterausschuß der Stiftung »Durcharbeitung DDR-Diktatur«. Er saß in einem schmucklosen Büro hinter der Friedrichstraße, eingerichtet wie eine Mischung aus Krankenkasse und Freiwillige Feuerwehr. Frau Schneider war überraschend jung, überraschend hübsch und empfing mich überaus charmant.
»Ich hatte Sie mir wesentlich älter vorgestellt«, sagte sie lächelnd und bat mich, Platz zu nehmen.
»Ich«, sagte ich, »mir Sie auch, vielleicht nicht wesentlich älter, aber doch erheblich.«
»Ich dachte schon«, erläuterte sie weiter, »gleich kommt ein oppositionelles Urgestein zur Tür rein mit Bart und grauer Mähne.«
»Vielleicht kommt ja noch wer?« antwortete ich.
»Kaffee?«
»Gern.«
»Zucker? Milch?«
Wie oft die Kaffee-Dialog-Sequenz schon wiederholt worden sein mag? Wenn ich Staat wäre, ich würde Steuern darauf erheben. Mehrsatz-Steuer. Wir saßen uns gegenüber an einer Art Besprechungstisch, und ein kurzes, vollkommenesSchweigen kam auf, das ich immer, wenn es entstand, genoß und so weit wie möglich ausdehnen wollte, weil jedes Wort, das es unterbrechen würde, ein falsches sein könnte, sein müßte – und in den meisten Fällen ja auch war.
Frau Schneider hob die entzückenden Augenbrauen leicht an.
»Nein, vielen Dank«, beendete ich nach einer Weile diese spirituelle Gesprächsphase.
Trotz ihrer Jugend war Frau Schneider bestens informiert und äußerst auskunftsbereit. Niemand wird ja umfassender belehrt als ein DDR-Bürger über seine DDR-Vergangenheit. Ich erfuhr allerhand. Daß es im Unterschied zum Westen in der DDR nicht möglich gewesen sei, einfach zu einem Verlag zu gehen und etwas zu publizieren. Daß es dort deshalb viel mehr Untergrunddichter gegeben habe, weil der Untergrund gezwungenermaßen viel größer gewesen sei. Daß viele von vornherein darauf verzichtet hätten zu veröffentlichen, um sich Scherereien mit der Staatssicherheit zu ersparen. Und daß die genauso verfolgt und unterdrückt gewesen seien wie diejenigen, die mutiger beziehungsweise unvorsichtiger waren.
Mein Part bestand hauptsächlich in zustimmendem Kopfschütteln.
»Man kann heute ja kaum ermessen«, erläuterte Frau Schneider mit staatstragendem Timbre, »welche Gefahr für die DDR von
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