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Ich soll nicht töten

Ich soll nicht töten

Titel: Ich soll nicht töten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Lyga
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dass es sich um die erste unbekannte Tote in diesem Jahr handelte. Wahrscheinlich auch die einzige. An einem Ort wie New York mochte es fünfzehnhundert und mehr nicht identifizierte Tote im Jahr geben; in Lobo’s Nod gab es natürlich Tote, aber sie waren immer identifiziert worden. Hier stellte eine einzelne Jane Doe bereits einen neuen Rekord auf.
    Jazz angelte sich den Ordner aus dem Fach und blätterte den Bericht durch.
    » Haben die Lämmer aufgehört zu schreien, Clarice?«, imitierte Howie plötzlich perfekt Hannibal Lecter.
    » Lass das!«
    » Ich verstehe eben nicht, warum du die Leiche sehen musst«, beschwerte sich Howie und schlang die Arme um den Körper, um sich zu wärmen. » Sie ist tot. Man hat ihr einen Finger abgehackt. Das wusstest du bereits.«
    Der Bericht war kurz. Wie G. William bereits angemerkt hatte, war er nur vorläufig. Jazz ging zurück zur ersten Seite und fing an zu lesen. » Hast du mal von Locards Austauschprinzip gehört?«
    » Sicher«, sagte Howie. » Ich habe sie letztes Jahr als Vorband von Green Day gesehen. Gingen voll ab.« Er spielte ein bisschen Luftgitarre.
    » Sehr witzig. Locard war dieser Franzose, der sagte, dass immer, wenn eine Person mit irgendetwas in Kontakt kommt, ein Zweiwege-Austausch zustande kommt. Zeug von der Person gerät an den Gegenstand– Haare vielleicht, oder Hautzellen, Schuppen–, und der Gegenstand überträgt etwas auf die Person– wie Staub, Farbe, Schmutz oder irgendwas. Es findet immer ein Austausch statt. Verstanden?«
    » Franzose. Austausch. Verstanden.« Howie salutierte und schlang dann wieder die Arme um den Leib.
    » Also dachte ich, der Mörder könnte vielleicht Spuren hinterlassen haben«, fuhr Jazz fort und seufzte dann. » Aber diesem Bericht nach hat er nichts hinterlassen. Keine Fasern, keine Haare, keine Flüssigkeiten… Alles sauber.«
    » So sauber, wie man sein kann, wenn man auf einem Feld gelegen hat«, sagte Howie. » Können wir jetzt gehen?«
    An die Innenseite des Ordners waren Fotos vom Fundort geheftet. Jazz betrachtete sie. Die perfekte Haltung dieser Leiche war beinahe unheimlich. Unnatürlich. Vollkommen, bis auf die fehlenden Finger, und selbst die waren nach dem Tod sauber » entfernt« worden, wie es in der aseptischen Sprache des Polizeiberichts hieß. Ohne Blutverlust.
    Wenn es vor dem Tod zu irgendwelchen Grausamkeiten gekommen wäre– Folter, Schnitte, Verstümmelungen–, hätte man leichter fassen können, dass der vormals lebende Mensch jetzt tot war. So wie die Dinge lagen, wirkte das Wort tot irgendwie… ungenau.
    » Erde an Jazz. Können wir gehen?«
    » Noch nicht.« Jazz schob den Bericht des Coroners wieder in den Ordner und begann, den Reißverschluss des Leichensacks aufzuziehen.
    » O Mann!« Howie trat einen Schritt zurück. » Ich bin heute absolut nicht in der Stimmung, mir Leichen anzusehen.«
    » Du kannst draußen warten, wenn du willst.« Er zog den Reißverschluss bis ganz nach unten auf, und da lag Jane Doe, die Augen geschlossen, die Haut von einem wächsernen Weiß. Nach etwa achtundvierzig Stunden verleiht das Wirken von Bakterien der Haut einen grünlichen Ton, deshalb schloss Jazz, dass weniger als zwei Tage seit dem Mord vergangen waren, und der Bericht kam zu demselben Ergebnis.
    » O Mann«, sagte Howie hinter ihm mit leiser Stimme. » Gott. Sieh sie dir an.«
    Jazz schaute auf die Frau hinunter. Er wusste, er sollte jetzt etwas empfinden. Selbst in Gerichtsmedizinern regte sich ein leises Bedauern, wenn ein so junger und gesunder Mensch vor ihnen lag. Aber Jazz blickte auf die Leiche und fühlte… nichts. Schlicht und ergreifend nichts.
    Nun ja, es stimmte nicht ganz. Ein winziger Teil von ihm registrierte, dass Jane Doe, als sie noch lebte, ein leichtes Opfer gewesen wäre. Leichte Beute. In den Augen eines Mörders waren die zierliche Gestalt und das Fehlen erkennbarer Körperkraft sicherlich anziehend. Die kurzen Fingernägel bedeuteten eine geringere Gefahr, zerkratzt zu werden. Dem Bericht zufolge war die unbekannte Tote nicht größer als eins dreiundfünfzig. Ein Traumopfer. Man konnte sich kein besseres maßanfertigen lassen.
    » Mann, das ist doch beschissen, oder?«, flüsterte Howie. » Sie war so ein winziges Ding, und dann kommt einfach irgendwer daher und…«
    » Ja, beschissen«, unterbrach Jazz. » Jetzt sei still. Ich arbeite.«
    Keine Blutergüsse, keine Schnitte, Quetschungen oder Kratzer. Er konnte nur eine oberflächliche Untersuchung vornehmen,

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