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Ich uebe das Sterben

Titel: Ich uebe das Sterben
Autoren: Gritt Liebing
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inzwischen an ihnen befinden, aber ich kann immer noch laufen, muss keine Gehpausen einlegen. Wahrscheinlich bewegen sich meine Beine im puren Endorphinstrom, dem sogenannten Runner’s High. Ich bin richtig gut gelaunt.
    Bis etwa zwei Kilometer vor dem Ende. Dann kommt er doch noch. Erbarmungslos schlägt er zu, der »Mann mit dem Hammer«. Jeder Muskel in meinem Köper schmerzt spürbar. Ich kann einfach nicht mehr. Dabei befinde ich mich in diesem Moment schon auf der sogenannten Zeil, der Einkaufsmeile in Frankfurt. Ich ächze und stöhne, bin frustriert. Zwei Bekannte an der Wegstrecke versuchen, mir Mut zu machen. Doch ich will einfach nicht mehr. Dabei sind es nur noch weniger als zwei Kilometer bis zum Ziel. Ich fange an zu gehen, bleibe stehen, überlege sogar, ob ich mich auf eine Bank in der Fußgängerzone setzen soll. Erst ungefähr achthundert Meter vor der Ziellinie kehrt mein Verstand zurück.
    Ich schaffe es, den Schmerz und die Erschöpfung zu ignorieren und trabe los in Richtung Ziel. Der Sprecher redet mir aus der Seele, als ich mit hochgerissenen Armen durchs Ziel laufe: »Das ist wohl dein erster Marathon?! Das sieht man! Herzlichen Glückwunsch!«
    Das Gefühl, das sich nun in mir ausbreitet, ist nicht in Worte zu fassen. Das kann nur ein Ausdauersportler nach getaner Arbeit nachvollziehen. Glück, Zufriedenheit, Stolz – unendlich viele positive Gefühle prickeln in meinem Körper. Vergessen sind alle Zweifel, Schmerzen und Qualen.
    Ich stopfe mir Bananen und Äpfel in den Mund und spüle sie mit vielen Bechern Cola hinunter. Meine Bekannten klopfen mir auf die Schultern, hängen mir eine Jacke um.
    Im Freudentaumel betrete ich wieder die Halle für die Läufer und schaue zum ersten Mal auf die Uhr. Trotz aller Strapazen habe ich es nicht versäumt, auf der Ziellinie die Stopptaste meiner Sportuhr zu drücken: vier Stunden fünfundvierzig Minuten fünfundvierzig Sekunden! Ich bin einfach nur glücklich.
    Eine halbe Stunde nach dem Zieleinlauf wage ich es, meine Socken und Schuhe von den Füßen zu ziehen. Der Anblick ist grauenhaft: Die großen Zehen sind zwei riesige Blasen, und außerdem zähle ich sieben weitere Blasen an den Füßen. Ich wundere mich, denn als alter Läuferhase kaufe ich meine Laufschuhe grundsätzlich groß genug. Viel später erst erfahre ich den wahren Grund für die Blasenbildung: herzbedingtes Wasser in den Füßen.
    Getragen vom Hochgefühl der gut überstandenen 42,195 Kilometer fühle ich mich auf dem Weg nach Hause so großartig wie noch nie. Ich habe es geschafft!
    Zur Belohnung fahre ich durch den Drive-in Schalter eines Fast-Food-Restaurants. Noch nie haben Pommes und Burger besser geschmeckt. Und noch nie war mein Sofa bequemer. Darauf lasse ich mich fallen, als ich endlich in meiner Wohnung ankomme und den Rest des Abends als Couchpotato verbringen will.
    Leider kann ich diese Trägheit nicht lange unbeschwert genießen. Mein Herz hämmert stärker und unregelmäßiger als je zuvor. Und wieder ist da diese Angst. War es ein Fehler, den Marathon zu laufen? Bezahle ich jetzt dafür?
    Nach einer fast schlaflosen Nacht bewege ich mich am nächsten Tag im Büro wie ferngesteuert. Meine Füße schmerzen, und ich kann nicht aufhören, auf den Rhythmus meines Herzens zu achten.
    Am darauffolgenden Tag nehme ich meinen vor zwei Wochen vereinbarten Termin im Städtischen Klinikum Darmstadt wahr, um mich dort noch einmal genau untersuchen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht bewusst, dass sich mein Leben von nun an vollkommen verändern wird.
    Gute zwei Wochen werde ich im Klinikum komplett auf den Kopf gestellt. Medizinstudenten der Universität Frankfurt kommen interessiert auf mich zu, um die Auswertungen meiner vielfältigen Elektrokardiogramme zu betrachten. Das Ausmaß meiner Herzrhythmusstörungen sprengt fast jedes Lehrbuch.
    Ich bin in einem Vierbettzimmer untergebracht. In den zwei Wochen meines Aufenthaltes wird mir bewusst, wie viel Krankheit und Leiden es auf dieser Welt gibt. Ich versuche zwar, mich erst einmal nur auf mich selbst zu konzentrieren, um wieder gesund zu werden. Doch es gelingt mir nicht mal im Ansatz.
    Besonders beschäftigt mich eine an Alzheimer erkrankte Frau, die nachts regelmäßig ihren Kot mitten in unserem Zimmer absetzt. Danach findet sie ihr Bett nicht mehr und versucht, bei mir oder einer anderen Patientin unter die Decke zu schlüpfen. Natürlich entbehren solche Situationen in diesen Momenten nicht einer gewissen
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