Ich uebe das Sterben
Gesundheitszustandes und abschließend ein Gespräch mit einem weiteren Kardiologen. Wir vereinbaren einen weiteren Termin im Juni zu einer elektrophysiologischen Untersuchung und einem kurzen stationären Aufenthalt im Klinikum Großhadern.
Das passt zwar gar nicht in meinen persönlichen Plan, denn ich bin bei der neuen Firma noch in der Probezeit und habe natürlich Angst, dass mir die Fehlzeit negativ ausgelegt wird. Dennoch ist die Ungewissheit über meinen unruhigen Herzrhythmus so beängstigend für mich, dass ich den Termin im Klinikum auf jeden Fall wahrnehmen möchte.
Zwischenzeitlich ist aus unserer Wohngemeinschaft die Villa Kunterbunt geworden. Die Renovierungsarbeiten sind abgeschlossen, der Kühlschrank ist immer gut gefüllt, es gehen täglich die unterschiedlichsten Menschen aus und ein, und der Abwasch türmt sich im Spülbecken. Meine Mitbewohner – auch mein Ex – sind allesamt männliche Architekturstudenten und gute zehn Jahre jünger als ich. Zu diesem Zeitpunkt bereue ich es immer wieder, selbst nicht studiert zu haben. Ich denke, ich habe den Schritt, in diese Wohngemeinschaft zu ziehen, sicher auch gewagt, um mir wenigstens ein bisschen Studenten-Feeling zu verschaffen. Zudem will ich mir meinen nahezu pedantischen Putz- und Aufräumwahn unbedingt abgewöhnen. Dazu bietet dieses Haus die ideale Plattform. Denn entweder werde ich zur Putzfrau der gesamten Mannschaft und bin ständig genervt von Schmutz und Unordnung, oder ich lerne, darüberzustehen, und nutze die gewonnene Zeit für erfreulichere Dinge – wie Sport. Es kommt, wie ich es mir gewünscht habe: Ich trainiere viel – nicht nur Radfahren, Schwimmen und Laufen, sondern auch, mit geschlossenen Augen am Schmutz vorbeizugehen. Das Training ist in jeder Hinsicht erfolgreich.
Im Mai begegne ich in meiner Firma einem interessanten Mann, Harald. Ich bin zwar nicht aktiv auf der Suche nach einem neuen Partner, aber ich verschließe auch nicht die Augen vor netten Männern. Ich begegne ihm nur kurz am Kopierer, stelle mich vor und wünsche ihm viel Erfolg. Er ist einer der Bewerber für die neu zu besetzende Stelle im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. In diesem Rahmen ist er einer von zwei Kandidaten, die einen Tag zur Probe arbeiten. Er ist blond, blauäugig, groß und ein passionierter Langstreckenläufer – mehr weiß ich zu diesem Zeitpunkt nicht von ihm. Dennoch reicht diese kurze Begegnung aus, dass ich immer wieder an ihn denke. Als ich zwei Wochen später erfahre, dass er tatsächlich der neue Mitarbeiter sein wird, freue ich mich. Einfach so.
Erste Begegnung mit dem Sterben
A n einem Abend im Juni mache ich mich wieder auf den Weg nach München – zu meinem nächsten Termin im Klinikum Großhadern. Ein zweites Mal nutze ich die kostenfreie Übernachtungsmöglichkeit bei meiner Kollegin. Wieder ist sie unterwegs, und ich lande erneut auf der bekannten, überdimensionalen königsblauen Couch. In dieser Nacht schlafe ich traumlos und fest.
Es ist der 11. Juni, sieben Uhr morgens. Der Wecker klingelt. Plötzlich beginnt es, in meinem Kopf zu brummen, so, als ob er von einem Schwarm Hornissen befallen wird. Meine Arme und Beine sind schlagartig taub. Sekunden oder Minuten später finde ich mich mitten im Wohnzimmer auf dem Boden wieder, rufe laut um Hilfe und habe nicht den Hauch einer Ahnung, wie ich dorthin gelangt bin. Ich bin schweißgebadet, mein Herz rast wie verrückt, der Kopf brummt immer noch. Ich schleppe mich in den Flur, werde wieder bewusstlos, komme zu mir, bin völlig orientierungslos und habe zum ersten Mal Todesangst. Auf allen vieren krabble ich weiter ins Bad. Mir ist total übel. Ich verliere erneut die Besinnung, komme zu mir, reiße den Toilettendeckel nach oben und erbreche. Der Schweiß fließt in Bächen, der Kopf brummt weiter, die Gliedmaßen sind taub. Ich würge, ich heule, ich schreie um Hilfe. Ich zerre mir die Kleider vom Leib und krieche in die Dusche, setze mich hin und lasse das Wasser über meinen Körper laufen. Ich werde erneut ohnmächtig.
Nach einer sehr langen Zeit in der Dusche beginne ich, auf wackeligen Beinen und noch immer mit Todesangst in den Knochen, meinen Tag. Aufgrund der Anlaufschwierigkeiten stehe ich ziemlich unter Zeitdruck. Ich hoffe, meinen Termin im Klinikum noch pünktlich wahrnehmen zu können. Mit dem Auto sind es nur zehn Minuten bis zum Parkplatz der Klinik. Auf der kurzen Fahrt wird mir allerdings so übel, dass ich es gerade noch rechtzeitig
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