Ich uebe das Sterben
mich gefangen. Ist der Transalpine-Run es wirklich wert, sich mit dem Tod anzulegen? Doch diese Überlegung kommt zu spät. Denn Rückzug zum jetzigen Zeitpunkt wäre die totale Niederlage.
Ein letztes Mal ziehe ich mir also tapfer die Laufklamotten über und stecke die schmerzenden Füße in meine Trailrunning-Schuhe.
Am letzten Wettkampftag herrschen ausgelassene Stimmung und totale Euphorie in den Startboxen. Alle Teilnehmer freuen sich regelrecht auf die letzte Etappe.
Nichts davon kann ich teilen. Ich konzentriere mich nur darauf, meinen Herzrhythmus mit zwischenzeitlich erworbenen Tricks – wie langsam und stetig kleine Schlucke zu trinken und zu hopsen – in Schach zu halten. Ich bin leichenblass und zittere. Wenn ich erst einmal unterwegs bin, komme ich auch an, mache ich mir selbst Mut. Und wenn es auf allen vieren ist.
Um punkt neun Uhr ertönt endlich der Startschuss, und Harald und ich verlassen Schlanders bei wolkenverhangenem Himmel. Ein letztes Mal schallt Highway to Hell hinter uns her.
Hand in Hand laufen wir vorwärts, doch heute Morgen ist bei mir die Luft raus – im wahrsten Sinne des Wortes. Schon nach wenigen Metern verlieren wir den Anschluss an das Feld. Hinter uns sind nur noch der Schlussläufer und ein Fahrzeug der Organisatoren. Davon lassen wir uns jedoch nicht entmutigen, denn heute gibt es keine Zeitlimits. Heute zählt nur das Ankommen.
Heini von Plan B hat mir gestern Abend noch ins Ohr geflüstert, dass sie das Ziel so lange offen lassen, bis Harald und ich auch da sind – egal, wie lange es dauert. So viel echte Anteilnahme ist unglaublich und stärkt mir den Rücken.
Eine geschlossene Bahnschranke, die einen Teil des Feldes am Weiterlaufen hindert, wird unser Glücksbringer. Durch diese Zwangspause können wir wieder Anschluss finden.
Danach geht es langsam bergauf. Teilweise schiebt Harald mich. Das erleichtert mir das Vorankommen, auch wenn ich gerne aus eigener Kraft weiterlaufen möchte. Aber schließlich sind wir ein Team, in dem einer von der Stärke des anderen profitieren soll und kann. Und ich habe den ganzen Transalpine-Run über bisher keine derartige Unterstützung in Anspruch genommen.
Allmählich finde ich einen Laufrhythmus, der meinem Herzrhythmus gefällt. Ich kann und will wieder alleine laufen. Zum ersten Mal an diesem Tag huscht der Ansatz eines Lächelns über mein Gesicht. Der Optimismus ist wieder da, der Tod steht einsam im Abseits.
Als Harald und ich den ersten Steig angehen, kommen wir gut voran.
Die erste Verpflegungsstelle bei Kilometer sieben auf der Göflaner Alm erreichen wir nach einer Stunde und achtunddreißig Minuten. Auch wenn das heute egal ist, liegen wir doch supergut in der Zeit.
Jetzt geht es zum letzten Mal hinein in den Berg. Fast schon ein wenig wehmütig werde ich bei dem Gedanken, dass die Göflaner Scharte erst mal der höchste Punkt sein wird, den ich in nächster Zeit erreichen werde.
Harald und ich sind gut dabei, können beim Anstieg weitere Teams überholen und kämpfen uns über Geröll den letzten Gipfel der Tour hinauf. Noch einmal genießen wir das Gefühl, auf 2396 Metern ganz oben zu stehen. Die Sonne blinzelt ein wenig durch die Wolken, aber der Wind ist eisig.
In rasantem Tempo geht es anschließend bergab. Ich mache bis zur letzten seilversicherten Passage mächtig Druck. Über einen wunderschönen Panoramaweg, der allerdings höchste Konzentration erfordert, um auf den letzten Metern nicht zu stürzen, erreichen wir die Forststraße.
Zum letzten Mal besuchen wir einen Verpflegungsstand. Dort halten wir uns ein wenig länger auf als sonst, plaudern mit Carsten und füllen in aller Ruhe unsere Mägen und Trinkflaschen.
Es sind zwar nur noch vierzehn Kilometer bis ins Ziel, aber die verlangen uns noch einmal alles ab. Mal überholen wir, dann werden wir überholt.
Nachdem wir an einer alten Burgruine vorbeigelaufen sind, befinden wir uns endlich auf dem Radweg, der sich durch die berühmten Südtiroler Obstplantagen noch drei Kilometer bis ins Ziel schlängelt.
Obwohl es mit leichtem Gefälle nach Latsch geht, wollen wir nicht mehr laufen, sondern vielmehr die letzten Meter genießen. Wir reden nicht. Meine Gedanken kreisen um gar nichts. Ich will mich auf den Moment des Zieleinlaufes voll konzentrieren, damit ich ihn genießen kann. Dazu müssen alle anderen Gedanken aus dem Kopf verbannt werden.
Die Sonne strahlt vom blauen Himmel, als wir nach fünf Stunden und fünfundvierzig Minuten, knapp
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