Liebe wird oft überbewertet
Knut und die RZB
Heute haben wir ja die traurige Gewissheit, dass Knut nicht mehr unter uns weilt. Eine Hirnerkrankung raffte den Justin Bieber der Tierwelt, das arme Tier, grade mal vier Jahre alt, dahin. Allerdings war es ja auch vor dem plötzlichen Tod schon ein wenig still um ihn geworden, nachdem die Berliner Tagespresse vergeblich versucht hatte, Knut in eine romantische Zweierbeziehung ( RZB ) zu drängen.
Der heilige Knut: am 5 . Dezember 2006 von Eisbärin Tosca geboren und verstoßen, von Pfleger Thomas Dörflein hingebungsvoll aufgezogen, zum Publikumsliebling des Berliner Zoos avanciert und erneut verwaist durch den Tod des Ziehvaters. Es folgte eine Dianisierung der Trauer um den sympathischen Pfleger. Danach stieg höchstens noch mal eine verwirrte Zoobesucherin zu Knut ins Gehege, der inzwischen mit seinem unschön gelb verfärbten Fell auch schon ein wenig räudig aussah. Die großen, emotionalen Knutnachrichten lagen da schon Monate zurück: »Knut hofft auf eine Spätsommerliebe! Die aufgeweckte Eisbärin Giovanna, eine mollige Italienerin, soll aus dem Münchner Zoo Hellabrunn nach Berlin kommen.«
Die Knuthysterie und ihre Themen waren stets ein Gradmesser für gesellschaftliche Entwicklungen gewesen. Lange bevor Knut geschlechtsreif war, hatte die Boulevardpresse die Polygamie-Wunschträume des kleinen Mannes auf den Eisbären übertragen: »Knut hat zwei Frauen! Knut soll Papas Frauen erben!«
Selbst seriöse Berliner Tageszeitungen unterstellten nun dem Eisbären den Wunsch nach einer RZB . Da konnte man bereits aufhorchen und die fortschreitende Verblödung der Welt erkennen, wenn schon Eisbären paarnormativem Druck ausgesetzt werden. Wenn den Einzelgängern unter den Raubtieren zarte Gefühle angedichtet werden, sich aber große Empörung regt, wenn der Unmensch ungerührt sechs lebende Karpfen verschlingt. Und das auch noch während Kinder zusehen!
»Knut ist wieder Single!«, hieß es, als Giovanna abreiste, ohne dass die beiden Bären das romantische Pärchenglück im Eisbärgehege vorgespielt hatten. Wenn man sich schon auf das Glatteis der tierischen Liebessemantik begibt – was hätte die mollige Italienerin Giovanna von einer Beziehung mit Knut gehabt? Knut war erwiesenermaßen ein schwer gestörter Egozentriker, die Ablehnung durch die Mutter und der frühe Verlust des Pflegevaters hatten zu Traumata und Bindungsunfähigkeit geführt, der Erfolg als Publikumsliebling hatte jede weitere sittlich-seelische Reifung verhindert. Was hätte Giovanna an Knuts Seite erwartet außer der Aussicht, schwierige Beziehungsarbeit verrichten zu müssen und als soziales Regulativ zu dienen? Nichts, nichts und wiederum nichts!
Berlin/Alexanderplatz, 15 . Dezember
Berlin ist tief verschneit und winterlich, und alles sieht viel schöner aus als sonst. Es graut einem jetzt schon vor der Zeit, wenn mit dem Tauwetter die alte Hässlichkeit wieder zum Vorschein kommt. Aber erst mal zieht ein Schneetief nach dem anderen über die Stadt, und es wird einem zunehmend weihnachtlich zumute, was ja kein Wunder ist, bei den rund fünfzig Weihnachtsmärkten. Die Zeitungen sind voll von Markttests und Erfahrungsberichten, und der größte Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz, eigentlich ein riesiger Rummelplatz, bekommt schlechte Noten. Die Weihnachtsmarktpuristen bemängeln, bei dem argen Halligalli bliebe die Besinnlichkeit von Zimtduft und Lebkuchen auf der Strecke.
Dabei gibt es keinen schöneren, besinnlicheren Anblick, als wenn es auf dem Weg von Kreuzberg nach Mitte aus weiter Ferne schon glitzert und blinkt, wenn die etwa 300 000 bunten Glühlämpchen des weltweit höchsten mobilen Riesenrads und des Kettenkarussells so heimelig ihr gleißendes Licht verstreuen. Zum Glück verabscheuen die Weihnachtsromantiker den Markt und bleiben ihm fern, dafür wird er von den jugendlichen Berlinern und Brandenburgern aus dem Umland sehr gut angenommen.
Neu ist dieses Jahr nicht nur die Doppellooping-Achterbahn »Teststrecke«, sondern auch ein 32 Meter hoher Erlebnistower.
L. hatte dazu im Internet recherchiert und ließ sich gestern trotz seiner Weihnachtsverachtung zu einer Begehung überreden. Aber ach! Hinter der bunten Glitzerfassade wartete dann, wie so oft, nur ein einmaliges Trasherlebnis: LCD -Leuchten auf Pappmaché, Dalís zerflossene Uhren, eine Rocker-Oma, die zur Melodie von »Highway to Hell« auf einem Motorrad herumjockelte, dazu eine autoritäre Stimme aus dem Off: »Setzen Sie jetzt Ihre
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