Ich war zwölf...
»hau ab« zu meinem Vater, aber
nun spreche ich nicht mit meinem Vater, auch wenn ich ihn Papa nenne, ich
spreche zu jemand anderem, zu einem Kerl, der kommt, um mich zu befingern, wenn
ich abends im Bett bin, der mich deswegen aufweckt.
»Mir reicht’s, Papa, hau ab!«
Endlich. Ich habe so gedrängt, daß er
sich in seinem braunen Bademantel fortgemacht hat. Ich bin gerettet. Aber wie
lange? Wird er mich jeden Abend so aufsuchen? Werde ich diesen Kerl ertragen
müssen? Dieser Mann da ist nicht mehr mein Vater. Ich begreife nichts mehr. Mir
ist ganz wirr im Kopf, ich weiß nicht, was er will. Er will etwas, aber was?
Ich bin sein kleines Mädchen, was kann ich tun? Ich kann ihm nicht viel geben.
Meine Mutter schläft, sie ist müde. Sie ist anders als er, sie schläft nachts.
Er nie. Er führt auch nachts ein Leben, aber ein anderes. Was ist geschehen? Was
habe ich getan, daß es nicht mehr wie früher ist? Was fällt ihm ein, mich zu
wecken, um sich angeblich mit mir zu unterhalten? Und er will sich nicht nur
unterhalten. Anfangs hab’ ich das geglaubt. Jetzt nicht mehr. Er kommt
heimlich. Er wartet, bis alle schlafen. Das ist nicht weiter schwierig,
schließlich muß man zeitig schlafen gehen. Verboten, nach acht Uhr abends fern
zu sehen. Verboten, auf der Straße zu spielen, außer sonntags. Verboten,
Schimpfworte zu benutzen, verboten, ins Kino zu gehen. Disziplin. Nur das hat
er im Kopf, Disziplin und Arbeit. Gehorsam. Respekt. Für Sie ist mein Vater ein
Mann, der in Ordnung ist, fleißig, ein »Arbeitstier«, wie er von sich sagt, er
will der Herr sein, und er duldet keine Widerrede.
Als ich zehn war, hat mir meine
Großmutter Dinge erzählt, die mich an ihm zweifeln ließen. Aber ich wußte, daß
sie ihn nicht mochte. Ich erinnere mich gut daran, ich aß Trauben, ich
verbrachte die Ferien mit meiner Schwester in Belgien, und Großmama hat
angefangen, mir Geschichten über die Heirat meiner Eltern zu erzählen. Bevor er
meine Mutter kennenlernte, war er mit einem Mädchen befreundet, in das er
wahnsinnig verliebt war; eines Tages hatten sie einen Streit, und es war aus.
Danach hat er meine Mutter geheiratet. Das erste Jahr ging alles gut. Und dann
hat er dieses Mädchen wieder getroffen, und Großmama sagt, daß er von dieser
Schlampe nie losgekommen ist. Er hat meine Mutter betrogen, sie wollte sich
scheiden lassen, doch er nicht. Sie waren erst seit zwei Jahren verheiratet, und
ich war da.
Ich muß über all das nachdenken, was
mir Großmama in diesem Sommer erzählt hat. Ich war damals zehn, und ich gebe
zu, daß es ein bißchen an mir vorbeigerauscht ist. Aber jetzt verstehe ich.
Etwas Unnormales hat sich da abgespielt, mein Vater wollte mit beiden Frauen
weiterleben. Nur hat sich meine Mutter geweigert. Sie wollte sich scheiden
lassen und mich behalten. Das ist das gute Recht einer Mutter. Doch er wollte
nichts verlieren. Weder seine Frau noch seine Geliebte, noch seine Tochter. Schon
damals war er also ein Schuft.
Mein Vater ist ein Schuft. Großmama hat
es mir gesagt, und ich begriff nicht wirklich, was das bedeutete: Mein Vater —
ein Schuft. Weil er mein Vater war. Ich dachte, Großmama sagte das, weil sie
ihn nicht mochte. Jetzt sage ich es selbst. Ich liege da, ganz in mein Bett
vergraben, denn sicherlich wird er heute Abend wiederkommen. Der Schuft wird
wiederkommen. Ganz gleich, ob ich mich schlafend stelle. Er kommt jetzt jeden
Abend. Ihm ist es schnuppe, ob ich Angst habe. Er hört nichts von dem, was ich
sage. Sobald ich ihm ausweiche, wird er augenblicklich ärgerlich. Ich habe kein
Recht, die Türe mit dem Schlüssel zu verschließen oder woanders zu schlafen. Da
ist kein woanders. Es gibt das Zimmer der Eltern, wo meine Mutter schläft, das
meiner Schwester und meines kleinen Bruders, in dem die beiden ruhig schlafen.
Ich nicht. Kein woanders, kein Himmel, der mir antwortet.
Jetzt verstehe ich also, was Großmama
erzählte. Von Tisch und Bett getrennt und jeden zweiten Sonntag Besuche bei
Papa. Er hatte eine Bar übernommen, und dieses Mädchen arbeitete mit ihm
zusammen. Ich kann kaum zwei Jahre alt gewesen sein, und am ersten Sonntag ging
alles gut. Punkt sechs Uhr abends hat er mich zu Großmama zurückgebracht. Aber
am zweiten Sonntag — der große Krach. Er wollte mich nicht wieder abliefern.
Alle waren in Aufregung, meine Mutter hat die Polizei verständigt, niemand
wußte, wo er mit mir steckte. Am nächsten Tag besuchte er meine Mutter. Ich
soll im Auto geweint haben, wo
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