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Ich weiss, dass du luegst

Ich weiss, dass du luegst

Titel: Ich weiss, dass du luegst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Ekman
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Sie.
    München, im Oktober 2010

Eins
    Einführung

    Wir schreiben den 15. September 1938, als eines der infamsten und folgenschwersten Täuschungsmanöver der Geschichte seinen Anfang nimmt. Zum ersten Mal begegnen sich der deutsche Reichskanzler Adolf Hitler und der englische Premierminister Neville Chamberlain. Die Welt schaut zu und ist sich bewusst, dass dieses Gespräch die letzte Hoffnung sein könnte, einen neuen Weltkrieg zu vermeiden. Nur sechs Monate zuvor sind Hitlers Truppen in Österreich einmarschiert, um den «Anschluss» des Nachbarstaats an das Deutsche Reich zu vollziehen. England und Frankreich haben protestiert, sich sonst aber zurückgehalten. Am 12. September, drei Tage vor seinem Treffen mit Chamberlain, fordert Hitler auch den Anschluss eines Teils der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich und löst damit Unruhen in dem Land aus. Insgeheim hat Hitler bereits die Mobilmachung des deutschen Heeres befohlen, um die Tschechoslowakei anzugreifen, doch die Vorbereitungen werden den Rest des Monats in Anspruch nehmen. Falls es ihm gelingt, die Tschechen so lange von der Mobilmachung ihrer Armee abzuhalten, wird er durch einen Überraschungsangriff im Vorteil sein.
    Um Zeit zu gewinnen, verheimlicht Hitler seine Kriegspläne vor Chamberlain und gibt ihm sein Wort, dass der Frieden bewahrt bleibe, sofern die Tschechen seine Forderungen erfüllen. Chamberlain lässt sich täuschen. Er überredet die Tschechen, nicht mobilzumachen, solange es noch eine Verhandlungschance mit Hitler gibt. Nach seinem Treffen mit Hitler schreibt Chamberlain an seine Schwester: «Trotz der Härte und Unnachgiebigkeit, die ich glaubte, in seinem Gesicht zu sehen, hatte ich den Eindruck, dass hier ein Mann vor mir stand, auf den man sich verlassen konnte, wenn er sein Wort gegeben hatte.»|  1 Fünf Tage später verteidigt Chamberlain vor dem Parlament seine Politik gegenüber jenen, die Hitlers Wort in Zweifel ziehen, und erklärt, sein persönlicher Kontakt mit Hitler erlaube ihm zu sagen, dass er «meint, was er sagt». |  2
    Als ich anfing, Lügen zu erforschen, war mir nicht klar, dass meine Arbeit für diese Art Lügen einmal bedeutsam werden könnte. Ich glaubte, sie wäre lediglich für Menschen interessant, die mit psychisch Kranken arbeiteten. Meine Beschäftigung mit Lügen begann nämlich, als ich Therapeuten meine Erkenntnis vortrug, dass Mimik universell ist, während Gesten kulturabhängig sind, und sie mich fragten, ob diese nonverbalen Verhaltensweisen preisgeben könnten, wann ein Patient lügt.| 3 Normalerweise spielt das keine Rolle, aber es gewinnt an Bedeutung, wenn Patienten nach Suizidversuchen in die Klinik eingewiesen werden und behaupten, es gehe ihnen schon viel besser. Jeder Arzt fürchtet, genarrt zu werden, indem der Patient Selbstmord begeht, sobald er die Klinik mit ihren Einschränkungen hinter sich gelassen hat. Die praktische Sorge der Therapeuten warf eine grundlegende Frage zur menschlichen Kommunikation auf: Können Menschen, selbst wenn sie ziemlich aufgeregt sind, die Botschaften kontrollieren, die sie aussenden wollen, oder wird ihr nonverbales Verhalten das ans Licht bringen, was ihre Worte verbergen?
    Auf der Suche nach einem Beispiel für eine Lüge sah ich mir meine Interviews mit Psychiatriepatienten noch einmal an. Eigentlich hatte ich sie gefilmt, um Äußerungen und Gesten auszusondern, die dazu beitragen könnten, Art und Schwere der psychischen Störung besser zu diagnostizieren. Da ich mich jetzt auf Täuschung konzentrierte, glaubte ich, Anzeichen von Lügen in den Filmen zu entdecken. Das Problem war: Wie konnte ich mir meines Urteils sicher sein? Nur in einem einzigen Fall gab es wegen des Geschehens nach dem Interview keinerlei Zweifel.
    Mary war zweiundvierzig Jahre alt und Hausfrau. Beim letzten ihrer drei Selbstmordversuche meinte sie es ziemlich ernst. Sie hatte eine Überdosis Schlaftabletten genommen und wäre gestorben, hätte sie nicht zufällig jemand gefunden. Ihre Krankengeschichte unterschied sich kaum von der anderer Frauen, die an einer Midlifecrisis leiden. Die Kinder waren erwachsen und brauchten sie nicht mehr, ihr Ehemann schien mit seiner Arbeit ausgelastet zu sein. Mary fühlte sich überflüssig. Als sie in die Klinik kam, konnte sie den Haushalt nicht mehr in Ordnung halten, schlief schlecht und weinte die meiste Zeit vor sich hin. Während der ersten drei Wochen ihres Klinikaufenthalts bekam sie Medikamente und nahm an der Gruppentherapie

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