Ich weiss, dass du luegst
Ungeschulte Testpersonen wurden irregeführt. Sie übersahen die Botschaft in den Mikros und glaubten, Mary ginge es gut. Erst als wir Zeitlupe einsetzten, nahmen sie die Traurigkeit wahr. Erfahrene Kliniker brauchten allerdings keine Zeitlupe, sie erfassten beim Betrachten des Films die Traurigkeitsbotschaft aus den Mikroexpressionen in Echtzeit.
Mit etwa einer Stunde Übung können die meisten Menschen lernen, solche Mikroausdrücke zu erkennen. Mit einem Verschluss über einer Projektorlinse war es möglich, ein Dia äußerst kurz zu zeigen. Zunächst behaupteten Testpersonen,
Abb. 2
sie hätten das eine halbe Sekunde lang aufblitzende Dia mit dem Ausdruck jetzt nicht sehen können und würden es wohl auch künftig niemals ausmachen, dennoch lernten sie sehr schnell. Das Erkennen der Mikroexpression wurde so leicht, dass sie manchmal glaubten, wir hätten den Verschluss langsamer gestellt. Nachdem sie ein paar hundert Gesichter gesehen hatten, waren alle in der Lage, die Emotion trotz der kurzen Ansichtszeit zu erkennen. Jeder Mensch kann diese Fähigkeit ohne den Verschlussapparat erlernen. Man muss nur die Fotografie eines Gesichtsausdrucks, so schnell man kann, vor seinem Auge aufblitzen lassen. Dann versucht man zu erraten, welche Emotion auf dem Bild dargestellt wurde, und schaut sich anschließend das Bild sorgfältig an, um den Gesichtsausdruck zu verifizieren. Danach sollte man es mit dem nächsten Bild versuchen. Dieses Training muss mindestens ein paar hundert Bilder umfassen.| 6
Mikros sind verlockend und quälend zugleich, denn während sie informationsreich sind und das Durchsickern einer verheimlichten Emotion erlauben, treten sie nicht sehr häufig auf. Wir fanden nur wenige Mikroexpressionen in dem Experiment mit den lügenden Krankenschwestern. Sehr viel häufiger waren abgebrochene Gesichtszüge. Während ein Ausdruck in der Entstehung begriffen ist, scheint sich die Person bewusstzuwerden, was sich zu zeigen beginnt, und bricht den Ausdruck ab, wobei sie ihn manchmal mit einem anderen vertuscht. Das Lächeln ist die gebräuchlichste Vertuschung oder Maske. Manchmal geschieht der Abbruch so schnell, dass es schwerfällt, die emotionale Botschaft zu erfassen, die der unterbrochene Ausdruck vermittelt hätte. Selbst wenn die Botschaft nicht durchsickert, kann der Abbruch ein wahrnehmbarer Hinweis sein, dass die Person Gefühle verheimlicht. Der abgebrochene Ausdruck dauert normalerweise länger, ist aber nicht so vollständig wie die Mikroexpression, die zeitlich komprimiert ist, dabei aber die volle Darstellung liefert, nur in verkürzter Form. Der abgebrochene Ausdruck gelangt nicht immer zu einer vollständigen Darstellung, ist vielleicht wahrnehmbar, dauert aber länger als eine Mikro.
Sowohl Mikroexpression als auch der abgebrochene Ausdruck sind für zwei Probleme anfällig, die die Interpretation der meisten Täuschungshinweise erschweren können. Erinnern wir uns an den Brokaw-Fehler aus dem letzten Kapitel, bei dem der Lügenermittler nicht die individuellen Unterschiede im emotionalen Ausdruck berücksichtigt. Nicht bei jedem Individuum, das eine Emotion verheimlicht, kommt auch unbedingt eine Mikro oder ein abgebrochener Ausdruck zum Vorschein, sodass deren Abwesenheit kein Beweis für die Wahrheit ist. Es gibt individuelle Unterschiede in der Fähigkeit, den Ausdruck zu kontrollieren, und Menschen, die ich als geborene Lügner bezeichne, beherrschen das perfekt. Das zweite Problem ist der Othello-Fehler. Er tritt auf, wenn man nicht erkennt, dass ehrliche Menschen emotional reagieren, wenn sie einer Lüge bezichtigt werden. Um diesen Fehler zu vermeiden, muss der Lügenermittler berücksichtigen, dass selbst wenn jemand eine Mikroexpression zeigt oder einen emotionalen Ausdruck abbricht, es nicht ausreicht, um diese Person mit Gewissheit als Lügner beurteilen zu können. Fast jede Emotion, die aufgrund dieser Mimik durchsickert, kann auch von einem Unschuldigen empfunden werden, der sich bemüht, diese Gefühle zu verheimlichen. Eine unschuldige Person hat möglicherweise Angst davor, dass man ihr nicht glaubt, fühlt sich wegen etwas anderem schuldig oder ist wegen der ungerechtfertigten Anschuldigung wütend oder verbittert. Vielleicht freut sie sich auch, den Ankläger zu widerlegen, da sie von dem Vorwurf überrascht ist. Versucht diese unschuldige Person nun, solche Gefühle zu verheimlichen, kann eine Mikroexpression auftreten oder ein Ausdruck abgebrochen werden. Wie man
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