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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Lacour
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Ingrid ist die Einzige, von der drei Fotos aufgehängt wurden. Sie hängen nebeneinander vorn im Klassenraum, genau in der Mitte. Eine Landschaftsaufnahme – zwei von Geröll bedeckte und von Dornensträuchern überwucherte Hügel, zwischen denen sich ein Bach hindurchschlängelt. Ein Stillleben von einer Vase mit Sprung. Und ein Porträt von mir. Die Beleuchtung ist ziemlich grell, und ich habe einen seltsamen Gesichtsausdruck, fast eine Grimasse. Ich blicke nicht in die Kamera. Als Ingrid in der Dunkelkammer den ersten Abzug davon gemacht hatte, sind wir einen Schritt zurückgetreten und haben zugesehen, wie mein Gesicht auf dem nassen Papier Konturen annahm, und Ingrid sagte:
Das bist du, das bist genau du.
Und ich sagte:
Meine Güte, ja, stimmt
, obwohl ich mich kaum erkannte.
    Ich verfolgte, wie sich unter meinen Augen Schatten bildeten, wie eine mir unbekannte Kurve an meinem Mundwinkel dunkler wurde. Es war eine härtere Version von mir, eine mutigere Version. Dann starrte ich auf ein Gesicht, das mir total unbekannt war, überhaupt nicht das Mädchen, das in einem reichen Vorort von San Francisco bei liebenden Eltern aufwächst und sogar ein eigenes Badezimmer hat.
    Vielleicht war es eine Vorahnung oder so was Ähnliches, denn wenn ich es jetzt betrachte, hat es doch viel Ähnlichkeit mit mir.
    Zunächst kann ich keines meiner eigenen Fotos entdecken, aber dann erkenne ich eins. Ms Delani muss es verabscheuen, weil sie es in der einzigen dunklen Ecke des Klassenraums aufgehängt hat, über einem Heizkörper, der vor der Wand steht und die Sicht auf einen Teil des Fotos versperrt.
    Ingrid war unglaublich gut in Kunst – sie konnte alles zeichnen und malen, und das sah dann oft besser aus als in Wirklichkeit –, aber ich hatte gedacht, in Fotografie wären wir beide gut gewesen.
    Als ich das Foto machte, war ich mir ganz sicher, dass es unglaublich gut würde. Ingrid und ich waren mit der Bahn zu ihrem älteren Bruder gefahren, der in San Francisco lebt. Es war eine lange Fahrt, weil wir so weit draußen in einem Vorort wohnen. Als wir durch Oakland fuhren, gab es irgendeine Verzögerung, und unser Zug hielt mitten auf der Strecke. Die Lok brummte nicht mehr. Die Leute rutschten auf ihren Sitzplätzen rum und richteten sich auf eine längere Wartezeit ein. Ich sah aus dem Fenster über die Autobahn zum Himmel, der unglaublich blau über traurigen, verwohnten Häusern und verwitterten Fabrikgebäuden leuchtete. Ich machte das Foto. Aber wahrscheinlich waren die Farben das Schönste. In Schwarzweiß sieht es nur traurig aus, und Ms Delani hat wahrscheinlich recht – wer will sich so was schon ankucken? Trotzdem ist es schrecklich peinlich, dass es nun in einer düsteren Ecke hängt. Ich muss mir was einfallen lassen, wie ich es heimlich dort verschwinden lassen kann.
    Von der ersten Minute bis zum Ende der Stunde lächelt Ms Delani, während sie von den hohen Erwartungen spricht, die sie an ihre fortgeschrittenen Schüler stellt. Sie lächelt so sehr, dass ihr die Wangen weh tun müssen. Die alte Wanduhr hinter mit tickt ganz langsam. Ich starre sie an und wünsche mir, die Stunde wäre vorbei. Dabei fallen mir die Regalfächer auf. Ich bin im letzten Schuljahr nicht dazu gekommen, mein Fach zu leeren, weil ich in der letzten Woche gefehlt habe.
    Ms Delani schreibt zur Wiederholung Begriffe an die Tafel –
Blende, Belichtungsmesser, Belichtungszeit
.
    Ich werde unruhig bei dem Gedanken an all das, was noch in meinem Fach liegt. Ich weiß, es sind alte Fotos, und es könnten auch ein paar von Ingrid dabei sein. Ich sehe wieder auf die Uhr, doch der Minutenzeiger hat sich kaum bewegt. Ich sollte warten, bis die Stunde vorbei ist, aber im Augenblick ist mir Höflichkeit ziemlich egal. Ms Delani ist ja auch nicht höflich. Deshalb rutsche ich mit meinem Stuhl nach hinten und kümmere mich nicht um das Quietschen auf dem Linoleum. Dann stehe ich auf. Ein paar Leute drehen sich um und wollen wissen, was los ist, aber als sie sehen, dass ich es bin, schauen sie schnell wieder nach vorn, als ob Blickkontakt tödlich wäre. Ms Delani redet weiter, als wäre nichts geschehen, und ignoriert total, dass Ingrid nicht hier ist. Sie hält nicht mal inne, als ich zu meinem Fach gehe und die Fotos heraushole. Weil ich mich so mutig fühle, kehre ich nicht sofort zu meinem Platz zurück. Stattdessen nehme ich mir alle Zeit der Welt und blättere den Stapel Fotos durch. Tatsächlich sind ein paar von Ingrid dabei,

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