Anita Blake 12 - Nacht der Schatten
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Das Lupanar war eine große Lichtung von hundert mal hundertfünfzig Metern. Sie lag in einer Senke, was man zunächst gar nicht bemerkte, erst recht nicht bei Nacht. Aber ich wusste, dass sich ringsum steile, bewaldete Hügel erstreckten. Es hatte mehr als einen Besuch gebraucht, bis ich das herausgefunden hatte.
Jetzt konnte man nur bis zum gegenüberliegenden Rand der Lichtung sehen. Dort steckten zu beiden Seiten des Thrones mannshohe Fackeln im Boden. Der Thron war aus einem Felsblock gehauen und an den Armlehnen von den Berührungen zahlloser Ulfrics blank gerieben. Wahrscheinlich waren die Sitzfläche und Rückenlehne genauso glatt, doch die waren mit einem Wust violetter Seide bedeckt. Sehr königlich. Beides zusammen im flackernden Licht der Fackeln hatte etwas Primitives. Es sah aus wie der Thron eines antiken Barbarenkönigs, der Felle und eine Krone aus Eisen trägt.
Ringsherum standen und hockten die Werwölfe, die meisten in menschlicher Gestalt. Sie hatten in dem Kreis eine Lücke gelassen, durch die wir jetzt gingen und die sich hinter uns schloss wie eine Tür aus lebendigem Fleisch. Die Werratten fächerten sofort hinter mir aus, doch es war klar, dass wir, wenn es zum Kampf käme, einer Übermacht gegenüberstünden, die uns schon jetzt umzingelt hatte.
Rafael und zwei sehr große Werratten standen an meiner rechten, Donovan Reece, der Schwanenkönig, an meiner linken Seite. Rafael war so freundlich gewesen, ihm vier Leibwächter zu geben. Micah hielt sich hinter mir, zusammen mit meinen neu erworbenen Leibwächtern. Dann folgten die Leoparden in einer etwas unordentlichen Verteidigungslinie noch vor dem Pulk der Werratten.
An einer Seite des Thrones hing ein Tuch zwischen zwei Bäumen; ein schwarzes Tuch, das als Vorhang fungierte und erst durch einen Windstoß meine Aufmerksamkeit erregte. Es wurde beiseite gezogen, und dahinter trat Sylvie hervor, gefolgt von einem großen Mann, den ich nicht kannte. Sylvies Gesicht wirkte nicht so fein, nicht so weich wie sonst; sie war ungeschminkt. Und ihre kurzen Locken waren hübsch, aber unfrisiert. Sie trug Jeans, was ich zum ersten Mal bei ihr sah, und dazu ein hellblaues Trägerhemd und weiße Joggingschuhe.
Ihr Begleiter hatte die Figur eines Basketball-Spielers, lange Arme und Beine und schlanke Muskeln. Von den Muskeln war allerhand zu sehen, denn er hatte nichts weiter an als eine abgeschnittene Jeans. Wie Richard brauchte er keinen äußeren Schnickschnack, um Aufmerksamkeit zu erregen. Er bewegte sich mit Anmut und Kraft wie ein Tiger. Nur dass die Gitterstäbe fehlten. Und meine Pistole lag zu Hause.
Er hatte kurze, dunkle Haare mit dichten, kleinen Locken und ein Gesicht, bei dem man sich nicht entscheiden kann, ob man es attraktiv oder reizlos finden soll. Kräftiger Knochenbau, lange Linien, breiter Mund mit schmalen Lippen. Ich hatte mich gerade für reizlos entschieden, als er mich anblickte, und im selben Moment merkte ich, dass ich falschlag. In seinen dunklen Augen funkelte Intelligenz und etwas Finsteres. Er zeigte mir seinen Ärger. Es war die schiere Kraft seiner Persönlichkeit, die ihn bemerkenswert machte und über sein gutes Aussehen entschied. Auf einem Foto käme das nicht zur Geltung, dazu musste man ihn leibhaftig vor sich sehen.
Mir brauchte keiner zu sagen, dass das Jacob war, das war sofort klar. Und ich wusste noch etwas anderes: Die Lage war ernst.
Dann kam Richard. Auch er strahlte eine bebende Kraft aus, und er bewegte sich genauso anmutig, genauso zornig wie Jacob, doch ihm fehlte etwas, das der andere hatte, vielleicht eine gewisse Härte, das Finstere. Eines war jedenfalls klar: Jacob war rücksichtslos. Das konnte ich beinahe riechen. Und rücksichtslos war Richard nicht, ob das nun gut war oder schlecht.
Ich seufzte. Ich hatte immer geglaubt, alles würde gut werden, wenn er sein Tier erst einmal akzeptiert hatte. Er setzte sich auf den Thron. Der Feuerschein spielte auf seinen welligen Haaren und verwandelte sie in Kupferfäden. Die Schatten spielten auf seinen Brust- und Armmuskeln. Er sah wirklich aus wie ein Barbarenkönig, und trotzdem hatte er etwas ... etwas Weiches an sich. Und wenn ich das spürte, dann Jacob ebenso.
Ich hatte einen dieser Momente von Klarheit, die es manchmal gibt. Richard konnte gar nicht wirklich rücksichtslos werden, egal wie wir uns ihm gegenüber verhielten. Er handelte manchmal im Zorn wie bei seiner Entführung Gregorys,
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