Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
auch schon aufgefallen ist, dass Lukas breitere Schultern bekommen hat, und ich lache und werfe einen Seitenblick auf Nils. Er trägt ein ärmelloses Shirt und seine Arme sind braun gebrannt und sehnig. Lukas und er sind tatsächlich gewachsen über den Sommer. Nils hebt den Blick und ich verweile ein paar Sekunden darin. Darum verpasse ich den eigentlichen Auftritt. Ich drehe den Kopf erst, als Tonja mir schon den Ellenbogen in die Seite bohrt. Ein großes, dunkelhaariges Mädchen ist in unsere Mitte getreten. Sie trägt ein schwarzes Lederband ums Handgelenk und das Haar fällt ihr in wilden Locken über die Schulter. Sie sieht älter aus als wir, und sie beansprucht Raum, so dass die, die am dichtesten bei ihr stehen, automatisch einen halben Schritt zurücktreten.
»Geht ihr in die 9C?«, fragt sie mit dunkler, heiserer Stimme. »Ich glaube, ich soll bei euch anfangen … Hab blöderweise den Zettel zu Hause liegen lassen!«
Wir sehen sie verwirrt an, während sie uns auffordernd einen nach dem anderen mustert.
»Welchen Zettel?«, fragt Madeleine dämlich.
Das Mädchen fixiert sie und scheint zu denken, aha, hier haben wir es also mit dem weniger intelligenten Teil der Klasse zu tun, bevor sie laut und deutlich erklärt:
»Ich habe einen Brief bekommen, in dem stand, in welche Klasse ich gehen soll. Und ich glaube, es war die 9C.«
»Das sind wir«, sagt Linnéa geistesgegenwärtig.
»Aber Britt hat gar nichts von einer Neuen gesagt«, meint Clara.
Nachdem die Klasse sich vom ersten Überraschungsangriff erholt hat, versammelt sie sich zur näheren Begutachtung um die Neue. Das lockige Haar sieht ungekämmt aus und ihr blau kariertes Hemd ist nicht zugeknöpft, sondern vor der Brust verknotet. Dazu abgeschnittene Jeans und Sandalen mit dünnen Riemchen. Die Fußrücken sind braun gebrannt und auf den Fußnägeln sind Reste von knallrotem Lack.
»Hast du auch einen Namen?«, fragt Sven mit seiner »Damit - du - gleich - weißt - wer - hier - der - bestaussehendste- und - coolste - Typ - ist - und - in - der - Klasse - Schule - Stadt - im ganzen-Universum-das-Sagen-hat«-Miene.
Als die Neue nicht gleich antwortet, schiebt Sven »Das stand wahrscheinlich auch auf dem Zettel« hinterher, womit er ein paar Lacher erntet.
Aber die Neue sieht nicht aus, als würde sie das tangieren. Sie wird noch nicht mal rot. Stattdessen gluckst sie leise. Als täte Sven ihr leid, dass er nicht mehr zu bieten hat als diesen kläglichen Witz.
»Silja«, sagt sie. »Und du?«
In dem Moment kommt Britt in ihrem blaugrauen Kostüm und einer strengen Falte zwischen den Augenbrauen dazu. Britt ist seit vierunddreißig Jahren Mathelehrerin an der Annelundsschule. Tonjas Mutter hatte sie schon als Lehrerin, als sie hier zur Schule gegangen ist. Seit der siebten Klasse ist sie unsere Klassenlehrerin. Im Großen und Ganzen gibt es nichts an ihr auszusetzen, außer dass sie immer Kostüm mit Bluse trägt und immer die gleiche, streng zurückgekämmte Frisur. Nein, sie ist ganz in Ordnung. Gerecht und ziemlich gut im Erklären.
Jetzt schüttelt sie Siljas Hand und heißt sie willkommen, wir gehen in die Klasse. Die Luft vibriert vor gespannter Intensität. Wir setzen uns, und Britt lässt ihr typisches »Ja also …« hören, ihre Art, uns zu sagen, dass wir jetzt bitte alle die Klappe halten sollen.
»Darf ich euch Silja Nordh vorstellen«, sagt sie mit einer Handbewegung in Siljas Richtung, die sich in der Klasse umsieht und nicht die Bohne unsicher wirkt.
Britt lächelt sie an.
»Willkommen in der 9C, Silja. Du wirst deine Mitschüler sicher schnell kennenlernen. Such dir einen freien Platz, damit wir anfangen können.«
Britt scheint da was missverstanden zu haben. Wahrscheinlich glaubt sie, es wäre nett, Silja die freie Platzwahl zu überlassen. Tonja und ich tauschen einen schnellen Blick. Vorne neben Line ist ein freier Platz. Der ist immer frei, weil sich noch nie jemand freiwillig neben Line gesetzt hat. Das kann Silja natürlich nicht wissen, aber eigentlich ist es ziemlich offensichtlich. Line hebt nicht einmal den Kopf, macht sich keine Hoffnungen, zieht keine Aufmerksamkeit auf sich, weil das nichts als Ärger bedeutet. Der zweite freie Platz ist neben Oskar, direkt vor Tonja und mir. Eigentlich merkwürdig, dass da niemand sitzt. Oskar ist ziemlich beliebt. Aber meistens hängt er mit Lukas und Nils rum und die sitzen zu zweit am Tisch neben ihm.
Der dritte freie Platz ist hinten in der Ecke, und auch Emelies
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