Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
weitergeht. Es ist Freitag. Am liebsten würde ich Sven anrufen, aber ich traue mich nicht. Womöglich denkt er, dass ich mich ja ganz schön flott von einem Arm in den nächsten werfe, wenn ich mich so schnell bei ihm melde. Wir haben in der Schule kaum miteinander gesprochen, aber unsere Blicke haben sich immer wieder gesucht, und es ist nicht eine Sekunde vergangen, in der meine Gedanken nicht um ihn gekreist sind. Ich hätte eine Menge andere Dinge, über die ich mir klar werden muss, aber Sven verdrängt alles andere, mein Verlangen nach ihm blendet alles andere aus.
Mehr oder weniger zufällig lande ich vor Papas Arbeitsplatz. Ich schaue auf die Uhr. Eigentlich müsste er gleich Schluss haben. Ich fahre mit dem Fahrstuhl nach oben und klopfe an seine Tür.
»Herein!«
Papa steht neben dem Schreibtisch und blättert in einem blauen Aktenordner. Er sieht mich überrascht an. »Vendela? Ist was passiert?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich war gerade in der Gegend, da dachte ich, ich schau mal bei dir rein. Bist du fertig?«
»Gleich. Willst du mit mir nach Hause fahren?«
»Ich bin mit dem Rad da.«
»Das können wir auch morgen holen.«
»Okay. Danke.«
Er zieht den USB-Stick mit dem roten Band heraus, hängt ihn um den Hals, fährt den Computer runter und knipst die Schreibtischlampe aus.
»Schön, dass du gekommen bist«, sagt er, als wir im Fahrstuhl nach unten fahren. »Ich wollte auch mit dir reden.«
»Aha?«
»Damit keine Missverständnisse aufkommen – ich finde es nach wie vor unmöglich, dass du ohne unsere Erlaubnis zu diesem Fest gegangen bist und dich betrunken hast … Aber zugleich hatte es auch sein Gutes, weil du Mama und mich dazu gebracht hast, wieder miteinander zu reden, uns mit den Dingen auseinanderzusetzen, vor denen wir uns die ganze Zeit gedrückt haben. Es kommt mir vor, als hätten wir inzwischen ununterbrochen geredet, selbst von der Arbeit haben wir SMS hin- und hergeschickt.«
Er verstummt, als die Fahrstuhltüren aufgleiten. Wir gehen zum Auto, das an der Straße geparkt ist, und als wir uns setzen, überlege ich nervös, worauf er eigentlich hinauswill. Sagt er mir jetzt gleich, dass sie zu dem Ergebnis gekommen sind, sich scheiden zu lassen?
»Davon habe ich gar nichts mitbekommen«, sage ich.
»Konntest du auch nicht«, sagt Papa schuldbewusst. »Wir hätten dich vielleicht mit einbeziehen sollen … Aber wir hatten so viel nachzuholen, nur wir zwei, auszumisten und zu bereinigen …«
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, frage ich.
»Hoffentlich einen Schritt vorwärts, Vendela. Ich hoffe, wir können jetzt nach vorne schauen. Du und ich und Mama.«
»Sie heißt Livia«, sage ich.
Papa lacht. »Das weiß ich«, sagt er.
»Dann nenn sie auch so.«
»Okay.«
Er sieht mich fragend an.
»Du erstaunst mich immer wieder, Vendela Walküre.«
»Walküre?«, sage ich. »Ist das nicht eine Kriegerin?«
»Ja.«
Ich schüttele den Kopf. »Das passt nicht zu mir. Ich bin ein Feigling. Vendela Weichei wäre besser. Und ich bringe alles durcheinander. Wie wär’s also mit Vendela Vandale? Oder Vendela Wirrkopf?«
»Was hast du durcheinandergebracht?«, fragt Papa.
Ich erzähle ihm von Silja und dem Referendar und dass es meine Schuld ist, dass er jetzt vom Schuldienst suspendiert ist.
»Vielleicht kann er jetzt nicht mehr Lehrer werden«, sage ich. »Dann hat er zig Jahre umsonst studiert, bloß weil ich die Klappe nicht halten konnte.«
»Es steht ja noch gar nicht fest, ob seine Karriere am Ende ist«, sagt Papa. »Aber man darf seine Schüler nun mal nicht sexuell ausnutzen, eine selbstverständliche und, wie ich finde, sehr nützliche Regel.«
»Aber er hat sie nicht ausgenutzt! Eher umgekehrt. Silja hat sich ihn ausgeguckt und beschlossen, ihn flachzulegen.«
»Ihn flachzulegen?«
»Ja, ihn sich zu angeln, zu verführen. Und so leicht schlägt man Silja nichts aus, was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hat, das kann ich dir versichern.«
Papa biegt auf die Eisenbahnbrücke ab und kratzt sich in seinen hellblonden Locken. »Das spielt keine Rolle, weißt du. Das gehört dazu, wenn man erwachsen wird, dass man Verantwortung für sein Tun übernimmt. Rein juristisch betrachtet, ist also der Referendar allein verantwortlich. Er darf sich eben nicht verführen lassen.«
»Ich finde das nicht in Ordnung«, sage ich.
Er sieht mich von der Seite an. »Aber wie sähe es ohne diese Regel aus? Wo verläuft dann die Grenze? Es ist immer schwer zu sagen, wer
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