Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Flattern.
»Ich frage mich einfach, wieso das so ist. Warum verhalten einige Menschen sich von Anfang an genau richtig, auch wenn sie komplett verrückte Dinge tun?«
»Zum Beispiel, in der Mathestunde seine Titten zu zeigen?«, steuert Lukas mit schlecht verhohlener Begeisterung bei.
»Was ist daran richtig ?«, meint Tonja. »Jedenfalls hat sie alle ganz schön geplättet. Wartet’s ab, bis Emelie zurück ist und Lovisa sich von ihrem ersten Schock erholt hat.«
»Mich hat es jedenfalls dazu gebracht, über die Hierarchie in der Klasse nachzudenken«, sagt Nils. »Die wird plötzlich so deutlich.«
Lukas sieht ihn mit offen stehendem Mund an.
»Sag mal, was redest du da eigentlich für einen Stuss?«, fragt er.
»Das stimmt«, sage ich, ohne nachzudenken. »Das ging mir genauso.«
Nils scheint aufzuatmen und wir lächeln uns kurz an.
»Was haltet ihr davon«, sagt Tonja plötzlich. »Wir machen eine Liste, wer wo steht, und dann sehen wir ja, wo Silja nach einer Weile landet. Dann können wir auch nachprüfen, ob sich bis zum Ende der Neunten was verändert. Aber das muss unter uns vieren bleiben, sonst ist der Witz weg.«
»Was denn für eine Liste?«, fragt Lukas. »Ich raff grad gar nichts.«
»Jetzt stell dich doch nicht blöder, als du bist!«, seufzt Tonja. »Eine Liste. Auf der zum Beispiel Sven als coolster Typ der Klasse steht. Kapiert?«
»Ah ja, mit Sven ganz oben und Line ganz unten?«
»So in der Art.«
»Okaaay, jetzt hab ich’s verstanden!«
»Und was ist mit uns?«, fragt Nils. »Wie machen wir das mit uns?«
»Tonja und ich platzieren euch und ihr platziert Tonja und mich. Okay?«
»Ganz schön bescheuert, wenn ihr mich fragt«, sagt Lukas. »Das machen doch sonst eher die Mädels in der Fünften, oder? Aber ich bin dabei.«
Wir verstummen, als Oskar sich zu uns auf die Decke fläzt und gierig unser Picknick beäugt.
»Madeleine und Ellen rücken das Essen noch nicht raus. Ihr habt ja echt krass viel«, sagt er.
Lukas seufzt. »Ich wusste es. Hast du überhaupt was mitgebracht?«
Oskar holt ein paar Flaschen Softdrink, und kurz darauf sind auch Ellen und Madeleine mit ihren Badelaken neben unsere Decke umgezogen. Jetzt gibt es doch ein Gemeinschaftspicknick. Die Stimmung steigt. Oskar ist ein echter Clown, kann aber ganz witzig sein, wenn man sich auf seinen speziellen Humor einlässt. Ellen und Madeleine sind seine treuen Fans. Sie werden wahrscheinlich als Groupies auf unserer Liste auftauchen, die fast alles tun würden, um in den Dunstkreis derer zu kommen, die weiter oben stehen.
Insgeheim beobachte ich Nils. Er ist wieder ganz der Alte, der stille Beobachter. Mit jeder Brise vom Wasser schiebt sich eine dunkle Locke in seine Stirn.
Die Sonne steht jetzt tiefer und die Farben um uns herum sind intensiver als im grellen Tageslicht. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich Tonjas Idee mit der Liste gut finde oder nicht, aber ich bin froh, dass Nils den Gedanken mit unseren Rollen in der Klasse zuerst angesprochen hat. Schön, dass er auch über solche Dinge nachdenkt. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.
Lukas rutscht näher an Tonja heran und legt seinen Arm um ihre Schultern. Sie verliert noch nicht einmal den Faden in dem Satz, den sie gerade sagt, und lässt zu, dass Lukas’ Arm liegen bleibt, als wäre das ganz selbstverständlich. Was es in gewisser Weise ja auch ist. Aber wenn Nils plötzlich seinen Arm um mich legen würde, dann würde ich komplett aus dem Konzept geraten. Und wahrscheinlich würden alle um uns herum verstummen oder uns aufziehen und blöde Kommentare abgeben. Es würde jedenfalls nicht unbemerkt bleiben, wie bei Lukas’ Arm um Tonjas Schultern. Und wahrscheinlich sehe nur ich das kleine Extrafunkeln in Tonjas Augen.
Viertel nach acht berührt die Sonne die Baumspitzen auf der anderen Seeseite. Madeleine fängt an zu frieren und zieht sich wärmer an, während sie peinliche Geschichten aus ihrem letzten Zelturlaub erzählt, mit denen sie alle zum Lachen bringt.
Und da kommt die Traurigkeit. So ist das immer bei mir. Wenn ich am entspanntesten und glücklichsten bin, kommt sie ohne Vorwarnung. Ich weiß nicht, ob es wirklich Traurigkeit ist. Aber es ist etwas Dunkles mit gewetzten Krallen, das sich ungeduldig in meinem Innern rührt und mich aus der warmen und sicheren Gemeinschaft heraustreten und sagen lässt: »Ich geh dann mal nach Hause.«
Tonja kennt mich. Die wunderbare Tonja versteht mich zwar nicht immer, aber sie weiß davon und
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