Der Polizistenmörder
1
Sie traf zeitig an der Haltestelle ein. Der Bus sollte erst in einer halben Stunde abfahren. Dreißig Minuten sind im Leben eines Menschen keine lange Zeit. Darüber hinaus war sie gewohnt zu warten und richtete es stets so ein, daß sie rechtzeitig zur Stelle war. Sie überlegte, was sie zum Mittagessen kochen sollte, und dachte ein wenig darüber nach, wie sie aussah. Das tat sie öfter.
Aber wenn der Bus hier ankam, würde es für sie mit dem Nachdenken aus und vorbei sein. Sie hatte nur noch siebenundzwanzig Minuten zu leben.
Das Wetter war schön und die Luft klar, der Wind war kühler als an den Tagen zuvor und erinnerte daran, daß bald Herbst sein würde, doch ihrem Haar konnte die Luft nichts anhaben, sie hatte es kräftig mit Spray festgehalten.
Wie sah sie aus?
Wie sie da am Straßenrand stand, konnte sie in den Vierzigern sein, eine gut zurechtgemachte, kräftig gebaute Frau mit langen Beinen, breiten Hüften und leichtem Übergewicht sowie großer Angst, daß das auffallen würde. Sie kleidete sich betont modisch, häufig auf Kosten der Bequemlichkeit, und an diesem windigen Spätsommertag trug sie einen hellgrünen Mantel im Schnitt der dreißiger Jahre, Nylonstrümpfe und dünne braune Lackstiefel mit flacher Sohle. Über ihrer linken Schulter hing eine kleine viereckige Handtasche mit großem Messingschloß, ebenfalls braun, im gleichen Farbton wie die Nappahandschuhe.
Sie bemerkte das Auto erst, als es anhielt. Der Mann auf dem Vordersitz beugte sich zur Seite und öffnete die Tür.
»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?« fragte er.
»Ja«, antwortete sie ein wenig verwirrt. »Gern. Ich hatte nicht damit gerechnet…«
»Womit hast du nicht gerechnet?«
»Na, ich habe nicht gedacht, daß mich jemand mitnehmen könnte. Hab auf den Bus gewartet.«
»Ich wußte ja, daß du hier sein würdest. Und zufällig paßte es gut. Beeil dich!« Wie viele Sekunden dauerte es, bis sie eingestiegen war und sich neben den Fahrer gesetzt hatte? Beeil dich.
Er fuhr schnell, und sie befanden sich bereits außerhalb des Ortes.
Sie hatte die Handtasche auf ihre Knie gelegt, und so saß sie da - gespannt, vielleicht auch aufgeregt und ein bißchen überrascht. Ob erfreut oder verärgert, das hätte sie nicht einmal selbst sagen können.
Sie blickte ihn von der Seite an, aber der Mann schien sich völlig auf das Fahren zu konzentrieren.
Jetzt bog er rechts von der Landstraße ab und änderte gleich danach noch einmal die Richtung. Mehrmals bog er in Seitenwege ein, so daß seine Fahrtrichtung nicht mehr zu erkennen war.
»Was hast du vor?« fragte sie und lächelte ein wenig nervös.
»Muß was erledigen.«
»Wo denn?«
»Hier«, antwortete er und hielt an.
Vor sich sah er seine eigenen Fahrspuren im Moos. Sie waren nur wenige Stunden alt.
»Da hinten«, fuhr er fort und nickte. »Hinter dem Brennholzhaufen, da ist es schön.«
»Machst du Witze?«
»So was habe ich noch nie spaßig gefunden.«
Es schien, als ob die Frage ihn verletzt oder erregt hätte.
»Aber mein Mantel«, gab sie zu bedenken.
»Laß ihn im Auto liegen.«
»Aber…«
»Es gibt Decken.«
Er stieg aus, ging um das Auto herum und hielt ihr die Tür auf.
Sie stützte sich auf ihn und zog den Mantel aus, faltete ihn sorgfältig zusammen und legte ihn auf den Sitz neben die Handtasche.
»So ist es gut.«
Er schien ruhig und selbstsicher, aber er nahm sie nicht bei der Hand, sondern ging langsam voraus bis zum Holzhaufen. Sie folgte.
Dahinter war es windstill, sonnig und warm. In der Luft summten die Fliegen, und das Gras duftete. Es war immer noch Sommer, und dieser Sommer war einer der wärmsten der letzten Jahrzehnte gewesen.
Eigentlich war es kein Brennholzhaufen, sondern ein Stapel zugeschnittener Buchenstämme, ungefähr zwei Meter hoch.
»Zieh die Bluse aus.«
»Ja«, sagte sie verlegen.
Er wartete geduldig, bis sie die Knöpfe geöffnet hatte. Dann half er ihr, die Bluse auszuziehen, behutsam, ohne sie zu berühren.
Sie blieb mit dem Kleidungsstück in der Hand stehen, wußte nicht, wohin damit.
Er nahm ihr die Bluse aus der Hand und legte sie vorsichtig auf die Kante des Holzstapels. Ein Ohrwurm lief im Zickzack über den Stoff.
Sie stand im Rock vor ihm, die Brüste hingen schwer in dem hautfarbenen Büstenhalter, sie blickte vor sich auf den Waldboden, lehnte sich mit dem Rücken an die glatte Fläche des frischgesägten Holzes.
Jetzt war der Augenblick gekommen, in dem er handeln mußte, und er tat es so
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